Hintergrund: Was sind Patientenpräferenzen?
Wer krank ist, muss ständig kleine und große Entscheidungen treffen: Geht es mir so schlecht, dass ich zum Arzt gehe? Soll ich mich operieren lassen oder doch noch abwarten? Will ich das Medikament nehmen, obwohl es Nebenwirkungen haben könnte?
Oft fallen diese Entscheidungen ohne großes Nachdenken – aus dem Bauch heraus. Doch gerade bei schwierigen Entscheidungen kann es helfen, zwei Schritte abgrenzen:
- Der erste Schritt ist die Suche nach Informationen. Patientinnen und Patienten fragen zum Beispiel erst einmal eine Ärztin oder einen Arzt, welche Möglichkeiten es gibt und was die jeweiligen Vor- oder Nachteile sind.
- Der zweite Schritt ist dann eine Abwägung der Möglichkeiten, was einem „wichtiger“ oder „lieber“ ist. Das Ergebnis der Abwägung zeigt sich dann als persönliche „Präferenz“ (Vorliebe). Dadurch, dass sich ein Mensch zwischen zwei oder mehr Alternativen entscheidet, zeigt er, was er für sich besser findet.
Patientenpräferenzen, also die Frage, wie sich Patienten zwischen Alternativen entscheiden, ist zu einem wichtigen Forschungsfeld geworden: Dass jemand seine Entscheidung getroffen hat, ist dabei weniger interessant. Spannender ist die Frage: Warum hat sich die Person so entschieden?
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben in den letzten Jahrzehnten verschiedene Verfahren entwickelt, um herauszufinden, was bei Entscheidungen den Ausschlag gibt. Das IQWiG hat Erfahrungen mit zwei dieser Verfahren gesammelt. Beide werden seit Jahren auch im Gesundheitswesen eingesetzt.
Das IQWiG hat zum Beispiel untersucht, welche Arzneimittel-Wirkungen für Patientinnen und Patienten mit einer Depression wichtiger sind und welche weniger wichtig.
Die Antworten können in Zukunft auch dabei helfen, schwierige Entscheidungen vorzubereiten, die das gesamte Gesundheitswesen betreffen.
Wann ist eine neue Therapie „besser“ als bisherige Therapien?
Diese Frage stellt sich zum Beispiel, wenn ein neues Arzneimittel auf den Markt kommt. In Deutschland sind das etwa 30 bis 40 pro Jahr. „Neu“ bedeutet nämlich nicht automatisch, dass ein Medikament tatsächlich besser ist als bisherige, oft bewährte Behandlungsmöglichkeiten.
Ob eine „Innovation“ besser ist, lässt sich am besten durch eine Nutzenbewertung feststellen. Sie soll die Frage beantworten, welche Vor- oder Nachteile die neue Therapie wirklich hat, wenn man sie mit der bisherigen Standardtherapie vergleicht.
Die Ergebnisse der Nutzenbewertung sind in doppelter Hinsicht wichtig.
- Zum einen helfen die Informationen betroffenen Patientinnen und Patienten, ihre persönliche Wahl zu treffen, wenn sie sich zwischen verschiedenen Möglichkeiten entscheiden können oder müssen.
- Zum anderen helfen die Ergebnisse auch auf der Ebene des Krankenkassensystems. Zum Beispiel hängt es bei neuen Arzneimitteln von der Nutzenbewertung ab, wie viel ein neues Medikament kosten darf. Wenn etwas nicht besser ist als eine bisherige Therapie, ist nicht einzusehen, warum es teurer sein soll.
Wie kann eine Nutzenbewertung bei Entscheidungen helfen?
Wer krank ist, hat ganz konkrete Erwartungen an eine Behandlung. Er will, dass Beschwerden möglichst schnell und vollständig beseitigt und Komplikationen verhindert werden. Alltag und Leben sollen so wenig wie möglich eingeschränkt sein.
In Deutschland nimmt die Nutzenbewertung diese Erwartungen von Patientinnen und Patienten sehr ernst. Grundlage für den Vergleich „neuer“ Behandlungen mit bisherigen Standardtherapien sind Ergebnisse zu so genannten „patientenrelevanten Endpunkten“. Die Nutzenbewertung soll drei einfache Fragen beantworten:
- Leben Patienten mit der neuen Therapie länger als mit der Standardtherapie? (Fachleute sprechen hier von „ Mortalität“ oder „Sterblichkeit“)
- Haben Patienten mit der neuen Therapie weniger Beschwerden, Komplikationen und Nebenwirkungen als mit der Standardtherapie? (Fachleute fassen das als „ Morbidität“ zusammen).
- Leben Patienten mit der neuen Therapie besser als mit der Standardtherapie? Können sie das tun, was sie gerne tun würden? (Fachleute sprechen hier von „gesundheitsbezogener Lebensqualität“.)
Diese drei Fragen decken aus Patientensicht die Aspekte ab, die für den Vergleich einer Therapie entscheidend sind. Es hängt dann von der einzelnen Krankheit und ihren Folgen ab, zum Beispiel welche Beschwerden tatsächlich von Bedeutung sind.
Was sind die Ergebnisse einer Nutzenbewertung?
Die bisherigen Erfahrungen mit der Nutzenbewertung neuer Therapien zeigen ein sehr unterschiedliches Ergebnis. Es gibt Beispiele für neue Behandlungen, die gegenüber der Standardtherapie eindeutige Vorteile hatten.
Oft kommt es aber vor, dass das Ergebnis gemischte Gefühle auslöst. Ein neues Medikament kann zum Beispiel Beschwerden etwas besser lindern als die bisherige Therapie. Aber diesem Vorteil steht gegenüber, dass bestimmte schwere Nebenwirkungen häufiger sind.
In solchen Situationen lässt sich dann nicht mehr einfach entscheiden, was „besser“ und was „schlechter“ ist. Hier ist eine Abwägung von Nutzen und Schaden nötig.
Um diese Abwägung vorzubereiten, läuft auch eine Nutzenbewertung in zwei getrennten Schritten ab.
- Zuerst werden Vorteile, Nachteile, Unsicherheiten und Wissenslücken gesammelt.
- Dann wird die „Wichtigkeit“ der einzelnen Ergebnisse bewertet.
Wenn man Patienteninteressen ernst nimmt, kommt es auch bei der Bewertung der „Wichtigkeit“ der Aspekte darauf an, dass die Bewertung so gut wie möglich den Präferenzen der betroffenen Patientinnen und Patienten entspricht.
Da es hier aber um Entscheidungen geht, die das Gesundheitswesen betreffen, müssen die Präferenzen so erhoben werden, dass sie repräsentativ für die betroffenen Patienten sind. Patientenpräferenzen lassen sich nicht allgemein festlegen, sondern müssen für jede Krankheit getrennt erhoben werden. Dazu sind gut vorbereitete Studien nötig, in denen Patientinnen und Patienten befragt werden, ohne sie zu beeinflussen. Studien zur Messung von Patientenpräferenzen können sehr leicht verzerrt werden, wenn man nicht mit großer Sorgfalt auf folgende Aspekte achtet:
- Patientinnen und Patienten sollten so ausgewählt werden, dass sie dem Spektrum der Erkrankten entsprechen.
- Die Fragen müssen verständlich und offen gestellt sein.
- Die beschriebenen Alternativen und ihre Vor- und Nachteile müssen realistisch sein.
Studien zur Erhebung von Patientenpräferenzen sind deshalb nur ernst zu nehmen, wenn das Vorgehen, die Auswahl und Eigenschaften der Teilnehmer und die Auswertung sehr transparent beschrieben sind.