Gesetz zur Stärkung der Herzgesundheit (Gesundes-Herz-Gesetz - GHG) Stellungnahme vom 09.07.2024 des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) zum Referentenentwurf des GHG vom 14.06.2024
Vorbemerkung
Mit dem vorgelegten Referentenentwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Herzgesundheit (Gesundes-Herz-Gesetz - GHG) wird das Ziel verfolgt, die Versorgung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu verbessern und die Herz-Kreislauf-Gesundheit der Bevölkerung zu stärken. Das IQWiG begrüßt diese Zielsetzung und unterstützt im Rahmen der ihm zugeordneten Aufgaben alle Bemühungen, die bei der Erreichung dieses Ziels helfen können. Wir stellen jedoch fest, dass viele der im Gesetz vorgesehenen Maßnahmen nicht oder fraglich geeignet sind, das selbst gesteckte Ziel zu erreichen.
Das IQWiG nimmt zu dem zugrundeliegenden Referentenentwurf nachfolgend zu den Aspekten Stellung, die eine evidenzbasierte Gesundheitsversorgung der Bevölkerung im Allgemeinen oder die Arbeit des IQWiG im Speziellen unmittelbar betreffen. Unser Ziel ist es, hierdurch konstruktiv zur Veränderung des Vorhabens beizutragen.
1 Bewusste Inkaufnahme fehlender Evidenzbasierung
Der Referentenentwurf sieht an verschiedenen Stellen Maßnahmen vor, die nicht den Anforderungen an eine evidenzbasierte Gesundheitsversorgung entsprechen. Darüber hinaus ist eine explizite Regelung geplant, dass die Festlegung und Erbringung von Früherkennungsmaßnahmen, deren Nutzen nach den Grundsätzen der evidenzbasierten Medizin noch nicht belegt ist, mittels Rechtsverordnung festgelegt werden können und zu Lasten der Krankenkassen zu erbringen sind. Der in § 2 Absatz 1 Satz § SGB V formulierte Grundsatz, dass Qualität und Wirksamkeit der Leistungen dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen haben, wird für diesen Kontext aufgehoben, ebenso wie das Wirtschaftlichkeitsgebot. Es ist nicht nachvollziehbar, warum gerade im Bereich der Früherkennung, der die gesamte Bevölkerung betrifft und damit einen großen Teil an gesunden oder beschwerdefreien Menschen, vom Grundsatz der Evidenzbasierung abgewichen werden soll. Es ist keineswegs so, dass durch das frühe Erkennen von Risikofaktoren oder Anzeichen einer Erkrankung bei beschwerdefreien Menschen und das nachfolgende frühzeitige Angebot von Behandlungsmaßnahmen, immer bessere Behandlungsergebnisse erzielt werden oder das Erkrankungsrisiko gesenkt wird. Gleichzeitig können durch Früherkennungsuntersuchungen Schäden entstehen. Direkte Schäden resultieren unmittelbar aus dem angewendeten Verfahren, zum Beispiel wenn es bei Durchführung eines Belastungs-EKG zu einem Herzinfarkt kommt. Solche schwerwiegenden direkten Schäden sind eher selten. Relevanter sind daher oft die indirekten Schäden. Dies sind zum einen falsch-positive und falsch-negative Befunde und deren Folgen, psychische Belastungen sowie ein Krankheits-„Labeling“. Ein zentraler Schadensaspekt sind die sogenannten Überdiagnosen, also die Diagnose einer Erkrankung, die der betroffenen Person in ihrem Leben nie geschadet hätte bzw. die sie möglicherweise niemals bemerkt hätte. Dies gilt gleichermaßen für die Diagnose von Risikofaktoren, von denen ebenfalls nicht per se klar ist, dass sie zu einer Erkrankung geführt hätten. Hieraus können teilweise langfristige Behandlungsmaßnahmen resultieren, die die Betroffenen psychisch, physisch und ggf. auch finanziell belasten können und die zu unerwünschten Wirkungen führen können.
Wenn also neue Früherkennungsmaßnahmen eingeführt werden sollen, ist es unverzichtbar, dass diese auf belastbarer Evidenz beruhen, die eine Abwägung von potenziellem Nutzen und potenziellem Schaden erlaubt. Entscheidet man sich für eine Einführung von Maßnahmen, zu denen keine solche Evidenz vorliegt, sollte dies gut begründet sein, und es sollte eine Begleitevaluation vorgesehen werden. Die Begleitevaluation sollte dabei prinzipiell geeignet sein, die offenen Fragen zu beantworten, also nicht einfach nur „Daten sammeln“. Dafür ist ggf. eine zeitlich gestufte Einführung der Maßnahmen in verschiedenen Regionen erforderlich, um die notwendige Vergleichsgruppe (ohne Früherkennungsmaßnahme) zu erhalten. Eine solche Evaluation sollte dann dazu genutzt werden, nach einem festgelegten Zeitraum zu entscheiden, ob die angestrebten Ziele erreicht werden sowie ob und in welcher Weise die Maßnahmen weitergeführt werden. Derartige Überlegungen fehlen im vorliegenden Referentenentwurf.
1.1 Früherkennungsuntersuchung bei Kindern und Jugendlichen auf Stoffwechselerkrankungen
Für Kinder und Jugendliche ist eine zusätzliche Gesundheitsuntersuchung im Alter von 12 Jahren vorgesehen sowie eine Untersuchung zur Früherkennung einer Fettstoffwechselstörung. Zur Früherkennungsuntersuchung „Fettstoffwechselstörung“ nimmt das IQWiG aktuell nicht inhaltlich Stellung, da das IQWiG zurzeit im Auftrag des G-BA eine Nutzenbewertung zu dieser Fragestellung bearbeitet. Dieser im August 2024 vorliegende Bericht sollte auch im weiteren Gesetzgebungsverfahren berücksichtigt werden. Möglicherweise ist es auch sinnvoll, über andere Screening-Optionen wie ein familienbasiertes Kaskaden-Screening oder Index-Screening bei den Familienmitgliedern einer Person (Indexfall) durchzuführen, bei der eine familiäre Hypercholesterinämie festgestellt wurde. Dies wäre absehbar mit einer erheblichen Reduktion unnötiger Untersuchungen und gleichzeitig mit der gezielten Ansprache der Zielgruppe verbunden.
Darüber hinaus möchte das IQWiG auf einen inhaltlichen Fehler im Referentenentwurf hinweisen: Die Studie von Luirink et al., 2019, betrachtete Kinder, die mit Statinen behandelt wurden, nicht im Vergleich zu unbehandelten Kindern, wie es in der Gesetzesbegründung heißt, sondern im Vergleich zu ihren erst im späteren Alter behandelten Eltern sowie zu gesunden Geschwistern. Zwar wurden die erst im späteren Alter behandelten Eltern als Kinder nicht behandelt, es handelt sich aber durch das Design um zeitlich erheblich versetzte Kohorten, sodass hier nicht von einem Vergleich „Kinder mit vs. ohne Statinbehandlung“ gesprochen werden kann.
1.2 Erweiterung der Gesundheitsuntersuchung
Die bestehende Gesundheitsuntersuchung soll um eine Untersuchung im Alter von 25 Jahren sowie altersangepasst um weitere diagnostische Maßnahmen ergänzt werden. Es sind unterschiedliche Schwerpunkte für die jeweiligen Altersgruppen vorgesehen. Die genaue Ausgestaltung soll in einer Rechtsverordnung festgelegt werden. Hierbei soll die Festlegung der erweiterten Check-up-Leistungen nach Beteiligung von Sachverständigen und der betroffenen Fach- und Verkehrskreise erfolgen. Wie genau dieser Prozess aussehen soll, wie die Auswahl der Experten erfolgt, wie potenzielle Interessenkonflikte erhoben werden (und wie der Umgang mit diesen ist), ob es Beteiligungsrechte geben wird und wie transparent das Verfahren gestaltet werden soll, wird nicht weiter ausgeführt.
Der Leistungsumfang der Gesundheitsuntersuchung ist bereits heute sehr breit und deckt die im GHG-Entwurf angesprochenen vorgesehenen Schwerpunkte im Prinzip bereits alle ab. Sollte aus Sicht des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) ein Anpassungs- oder Ergänzungsbedarf bestehen, ist es aus unserer Sicht sinnvoller, den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) darauf hinzuweisen, damit eine entsprechende Überprüfung evidenzbasiert erfolgen kann.
1.3 Vorgabe von Risikomodellen
Neben den ergänzenden Leistungen plant das BMG, künftig auch Vorgaben für standardisierte Fragebögen zur Erfassung spezifischer Risiken und Risikoerkrankungen für eine Herz-Kreislauf-Erkrankung im Alter von 25, 35 und 50 Jahren in einer Rechtsverordnung festzulegen.
Darüber hinaus werden im Referentenentwurf bereits der SCORE2 (Systematic Coronary Risk Estimation)-Risiko-Rechner für Versicherte bis zur Vollendung des 70. Lebensjahres und der SCORE2-OP-Risiko-Rechner für Versicherte ab Vollendung des 70. Lebensjahres als geeignete Risikomodelle benannt. Der SCORE2-Risikorechner berücksichtigt jedoch nicht die auch im Referentenentwurf angesprochenen wichtigen sozioökonomischen Risikofaktoren (siehe auch unter 2.1). SCORE2 soll zudem bereits in der Altersgruppe 35 Jahre Anwendung finden. Das Modell wurde jedoch erst für Personen ab 40 Jahren entwickelt und validiert. In der interaktiven Version des Risiko-Rechners ist eine Eingabe späterer Geburtsdaten bzw. ein Alter unter 40 Jahren nicht möglich. Daher kann SCORE2 in der Altersgruppe unter 40 Jahren nicht genutzt werden.
Wir schlagen daher vor, die Maßnahmen zur Einschätzung des kardiovaskulären Risikos nicht mittels Rechtsverordnung zu regeln.
1.4 Notwendigkeit der Aktualisierung
Medizinische Maßnahmen sollten immer in Hinblick darauf überprüft werden, ob es neue Erkenntnisse gibt, die eine Veränderung der bisherigen Versorgung bedürfen. Das bestehende System der Beratung im G-BA ist vom Grundsatz her gut geeignet, auf neue Evidenz zügig zu reagieren. Insbesondere aus dem Arzneimittelbereich sind solche schnellen Reaktionszeiten bekannt. Eine Festlegung von gesundheitsbezogenen Maßnahmen in einem Gesetz erscheint dagegen sehr viel schwergängiger, da jede Änderung eines umfassenden parlamentarischen Prozesses bedarf. Ähnliches gilt bei Festlegungen via Rechtsverordnung. Welche Aktualisierungsstruktur das BMG für die angedachten Regelungen vorsieht, kann dem Referentenentwurf nicht entnommen werden.
2 Eignung der im Referentenentwurf festgelegten Maßnahmen zur Erreichung des formulierten Ziels
2.1 Fokussierung auf zusätzliche Diagnostik und Arzneimitteltherapie
Die im Referentenentwurf vorgesehenen Regelungen betreffen v.a. zusätzliche diagnostische Maßnahmen sowie ein Ausweiten der Therapie mit Statinen. Der hoch relevante Bereich der Primärprävention wird im Referentenentwurf ebenso wenig thematisiert wie Maßnahmen zur Verhältnisprävention. Damit werden wichtige andere Einflüsse auf die Gesundheit neben den individuellen Lebensstilfaktoren außeracht gelassen wie z. B. Lebens- und Arbeitsbedingungen, soziale Bedingungen oder Umweltbedingungen. Neuer Modelle zur Berechnung des kardiovaskulären Risikos, versuchen solche Einflüsse zu berücksichtigen, wie z. B. der PREVENT-Score, der für den US-amerikanischen Raum Hinweise zum sozioökonomischen Status in die Berechnung einfließen lässt.
2.2 Ansprechen schwer erreichbarer Zielgruppen
Einige Vorschläge des GHG stehen im Widerspruch zu den Schlussfolgerungen des im Auftrag des BMG erarbeiteten Berichts P23-01 „Zielgruppenspezifische Ansprache von Versicherten bei der allgemeinen Gesundheitsuntersuchung“. In diesem Projekt hat das IQWiG die Nutzung der allgemeinen Gesundheitsuntersuchung („Check-Up“) nach § 25 SGB V in Deutschland analysiert. Der Bericht wurde im Mai 2024 veröffentlicht.
Die Ergebnisse des Projektes liefern auch Hinweise, warum es bereits auf Ebene der Ansprache der Zielgruppen zweifelhaft ist, dass die jetzigen Vorschläge des Referentenentwurfes die Ziele erreichen werden. So liegt bereits heute in Deutschland - ohne eine Einladung - die Nutzung des Check-Ups insgesamt mindestens in der Größenordnung wie in Österreich und Großbritannien, in denen bereits regelmäßig schriftlich eingeladen wird. Allerdings gibt es in der Nutzung des Check-Up in Deutschland wichtige Unterschiede zwischen verschiedenen Teilgruppen der Bevölkerung. Die Daten weisen darauf hin, dass das Angebot in Deutschland eher von Personen genutzt wird, die ohnehin häufiger Kontakt mit Arztpraxen haben. Gruppen mit höheren Gesundheitsrisiken und die das ambulante Versorgungssystem weniger in Anspruch nehmen, nutzen das Angebot der allgemeinen Gesundheitsuntersuchung seltener. Dazu gehören Menschen mit niedrigem sozioökonomischem Status, Frauen und insbesondere Männer mit Hinweisen auf gesundheitliche Risiken (Nikotinkonsum, keine oder geringe körperliche Aktivität, Konsum von wenig Obst und Gemüse) bzw. die ihren Gesundheitszustand als mittelmäßig oder schlecht einschätzen, sowie Menschen, die nach Deutschland zugewandert sind. Das GHG adressiert diese Unterschiede nicht. Wir prognostizieren deshalb, dass die vorgeschlagenen Interventionen ohne explizite Anpassungen kaum die Gruppen erreichen, die häufiger gesundheitliche Risiken aufweisen. Es ist eher zu erwarten, dass eine Überversorgung von Gruppen entsteht, die heute schon erreicht werden. Dass zudem Jugendliche in Textform zu einer Gesundheitsuntersuchung eingeladen werden sollen, erscheint angesichts der von dieser Altersgruppe vorrangig genutzten Medien nicht zielführend. Diese Maßnahme wird absehbar diejenigen, die bislang nicht über ihre Eltern die Gesundheitsuntersuchung nach §26 SGB V wahrnehmen, weiterhin nicht erreichen und Kosten ohne relevante Wirkung verursachen.
Entsprechend der Ergebnisse des Projekts P23-01 spricht sich das IQWiG für Maßnahmen aus, die spezifisch auf die Gruppen ausgerichtet sind, die heute nicht gut erreicht werden, um deren Gesundheitskompetenz zu stärken und eine informierte Entscheidung zu unterstützen. Auch diese Maßnahmen sollten in Form von Studien erprobt und evaluiert werden.
3 Informierte gemeinsame Entscheidung als Grundpfeiler einer evidenzbasierten Gesundheitsversorgung
Eine zentrale Anforderung an eine patientenorientierte, evidenzbasierte Gesundheits-versorgung ist, dass Menschen eine freie und informierte Entscheidung darüber treffen können, ob sie eine gesundheitsbezogene Intervention in Anspruch nehmen wollen oder nicht. Voraussetzung dafür ist, dass sie Informationen darüber erhalten, was man zu dieser Intervention weiß, ob es also aussagekräftige Studien gibt und was man daraus zum möglichen Nutzen und Schaden ableiten kann.
Im Referentenentwurf ist auch vorgesehen, dass Versicherte zu festgelegten Zeitpunkten Gutscheine erhalten, mit denen in der Apotheke eine Beratung und Messungen zu Risikofaktoren in Anspruch genommen werden können. Mit dieser Maßnahme möchte das BMG einen niedrigschwelligen Zugang zu den Untersuchungen erreichen, um auch Menschen anzusprechen und zur Inanspruchnahme der Gesundheitsuntersuchung zu motivieren, die sie bisher nicht in Anspruch genommen haben. Es ist grundsätzlich zu begrüßen, dass neue Wege gesucht werden sollen, um Menschen Informationen zur Gesundheit und zu Krankheitsrisiken zu vermitteln. Unklar ist jedoch aus unserer Sicht, wie sichergestellt werden soll, dass die für eine evidenzbasierte Information und Aufklärung notwendigen Kenntnisse in den Apotheken tatsächlich vorhanden sind. Der Plan, dass die Bundesapothekerkammer eine Standardarbeitsanweisung erarbeiten soll, die Festlegungen zu geeigneten Risikoscores und Beratungsinhalten enthalten soll, greift hier zu kurz. Dies allein reicht als Grundlage für eine solche Information und Beratung nicht aus. Auch in diesem Anwendungskontext ist es notwendig, dass Informationen evidenzbasiert entwickelt werden und bestehende Anforderungen an die Qualität von Gesundheitsinformationen erfüllt sind, wie sie z. B. in der „Guten Praxis Gesundheitsinformation“ oder der „ Leitlinie evidenzbasierte Gesundheitsinformation“ formuliert sind, die von verschiedenen Akteuren im Gesundheitswesen erarbeitet wurden.
4 Gesetzliche Regelungen zur risikoadaptierten Verordnungsfähigkeit von Statinen
Mit dem GHG sollen durch §34 Absatz 5 SGB V Regelungen zur Verordnungsfähigkeit von Statinen zur Vorbeugung schwerer kardiovaskulärer Ereignisse ergänzt werden. Dabei werden Details zur altersabhängigen 10-Jahres-Risikoschwelle genannt, ab denen Versicherte einen Anspruch auf Versorgung haben. Ähnlich wie bei anderen Regelungen im GHG erscheint es analog aus den in Abschnitt 1 unserer Stellungnahme genannten Gründen weder sinnvoll noch notwendig, derartige Details gesetzlich zu regeln. Unabhängig davon weisen wir auf folgende inhaltliche Punkte zu den geplanten Regelungen hin:
- Die untere Alterskategorie „bis zur Vollendung des 50. Lebensjahres“ ist nach unten offen, umfasst also auch Menschen, die 39 Jahre oder jünger sind. Wie in Abschnitt 1.3 unserer Stellungnahme beschrieben, ist der in der Begründung erwähnte SCORE2-Risikoscore für Menschen unter 40 Jahren ungeeignet. Überdies zeigt eine aktuelle systematische Übersicht und Metaanalyse der US-amerikanischen Agency for Healthcare Research und Quality ( AHRQ)
5, dass die Datenlage zur Primärprävention bei Menschen unter 50 Jahren dünn ist. Nur in einigen der durchgeführten Studien wurden überhaupt Menschen unter 50 Jahren eingeschlossen, in den entsprechende Studien lag die untere Altersgrenze zumeist bei 40 oder 45 Jahren. In allen eingeschlossenen Studien lag das mittlere Alter daher oberhalb 50 Jahren. Zu Menschen im Alter zwischen 40 und 50 Jahren liegt daher insgesamt nur wenig, für noch jüngere Menschen praktisch keine relevante Evidenz zur Primärprävention mit Statinen vor (familiäre Hypercholesterinämie hier ausgenommen). - Die obere Alterskategorie „ab Vollendung des 70. Lebensjahres“ ist nach oben offen. Wie wiederum die aktuelle AHRQ-Übersicht zeigt, haben nur wenige Studien ältere Menschen dieses Alters eingeschlossen. Die beiden einzigen Studien, in denen das mittlere Alter der eingeschlossenen Menschen oberhalb 70 Jahre lag (ALLHAT-LLT und PROSPER), zeigen jeweils keinen statistisch signifikanten Vorteil einer Statintherapie bezüglich Gesamtmortalität oder kardiovaskulärer Mortalität.
- In der Begründung wird erwähnt, dass „insbesondere hoch potente Statine wie Atorvastatin oder Rosuvastatin eingesetzt werden“ können. Diese Empfehlung ist nicht evidenzbasiert, im Gegenteil. Die erwähnte systematische Übersicht und Metaanalyse der AHRQ, deren Evidenzgrundlage nicht nur systematischer, sondern auch aktueller als die der in der Begründung erwähnten ESC-Leitlinie ist, konstatiert, dass es keine Evidenz für eine LDL-Zielwert-Titration bei der risikoadaptierten Primärprävention mit Statinen gibt. Die ausgesprochene Empfehlung für „hoch potente“ Statine ist nicht nur nicht evidenzbasiert, sie birgt überdies das Risiko, eine solche nicht evidenzbasierte Strategie in der risikoadaptierten Primärprävention auch jenseits von Statinen zu verankern, mit der entsprechenden Folge einer drastischen Überversorgung von Gesunden mit lipidsenkenden Arzneimitteln.
Wir schlagen daher insgesamt vor, §34 Absatz 5 SGB V zu streichen.
5 Erweiterung der Versorgung mit Arzneimitteln zur Tabakentwöhnung
Mit dem GHG soll der derzeit bestehende Anspruch auf Versorgung mit Arzneimitteln bei einer bestehenden schweren Tabakabhängigkeit auf eine bestehende Tabakabhängigkeit ohne Einschränkung des Schweregrads ausgeweitet werden. Diese vorgesehene Änderung ist nachvollziehbar, denn sie ist evidenzbasiert.
Das IQWiG hat den Nutzen von Medikamenten zur Tabakentwöhnung kürzlich bewertet.
Für die im GHG vorgesehene Vorgabe an den G-BA, den Erstattungsanspruch innerhalb von 6 Monaten nach Inkrafttreten des GHG zu regeln, liegt damit bereits die notwendige systematische Bewertung der Evidenz vor. Gemäß der aktuellen Gesetzeslage bezog sich der Auftrag des G-BA für diese Nutzenbewertung zwar auf Menschen mit schwerer Tabakabhängigkeit. Der Bericht macht deshalb primär eine Aussage zum Nutzen einer medikamentösen Therapie in dieser Gruppe: der Nutzen von Nicotin-Arzneimitteln und Vareniclin für die Tabakentwöhnung bei schwerer Tabakabhängigkeit ist belegt. Im Verlauf des Projekts war es aus methodischen Gründen aber notwendig, auch die Frage zu untersuchen, ob sich die Ergebnisse zum Nutzen der Medikamente bei schwerer und nicht-schwerer Tabakabhängigkeit unterscheiden. Dabei zeigte sich, dass der Nutzen für Nicotin-Arzneimittel und Vareniclin unabhängig von der Schwere der Tabakabhängigkeit besteht. So zeigten Subgruppenanalysen der Raucherinnen und Raucher mit unterschiedlicher Ausprägung der Schwere der Abhängigkeit, dass die positiven Effekte für die dauerhafte Rauchfreiheit nicht von der Schwere der Tabakabhängigkeit abhängen. Daher können auch Menschen mit nicht-schwerer Tabakabhängigkeit von einer medikamentösen Therapie mit diesen beiden Wirkstoffen profitieren. Für die beiden anderen untersuchten Wirkstoffe, Cytisin und Bupropion, fehlen solche Nachweise, da die jeweiligen Hersteller die notwendigen Daten nicht bereitgestellt hatten.
6 Patientenschulungen als zentraler Bestandteil der Disease-Management-Programme
Der Entwurf des GHG sieht vor, dass die Anforderungen an Schulungen im Rahmen von Disease-Management-Programmen (DMP) zukünftig so auszugestalten sind, dass sie „auf Grundlage der besten, verfügbaren Evidenz und unter Berücksichtigung der Versorgungsrealität die Durchführung der Programme gewährleisten“, mit dem Ziel, die Umsetzung von DMP in der Versorgung zu fördern und zu beschleunigen. Zudem sollen Schulungen zukünftig „in der Regel auch unter Verwendung digitaler Anwendungen oder telemedizinisch erfolgen, soweit keine medizinischen Gründe entgegenstehen“. Und schließlich sollen zukünftig Patienteninformationen als Ersatz für Schulungen ausreichen, wenn „bisher keine hinreichend evaluierten Schulungen vorliegen“.
Mit diesen Änderungen wird das Wesen der DMP potenziell fundamental geändert. Denn Patientenschulungen stellen einen zentralen Bestandteil der Programme dar. Es ist zwar nachvollziehbar, dass Hürden für die Überführung von DMP in die Regelversorgung beseitigt werden sollen. Hierfür sollen jedoch mit dem GHG offenbar erhebliche Abstriche in der Qualität der Programme in Kauf genommen werden.
Die vorgesehene regelhafte digitale Erbringbarkeit der Schulungen ignoriert die bestehende Evidenz, wonach Präsenzschulungen nicht unverändert virtuell ohne Qualitätsverluste durchgeführt werden können und die Qualität digitaler Schulungen auch von technischen Gegebenheiten und Fähigkeiten der Schulenden und Geschulten abhängt. Es ist nicht realistisch, hier eine auch nur annähernd ähnliche Qualität und Ausstattung allgemein zu erwarten. Der Verweis auf §365 Absatz 1 zu Anforderungen an die telemedizinische Ausstattung ist nicht zielführend, da dort die technischen Verfahren für einen anderen Zweck geregelt werden, nämlich die Videosprechstunde. Diese unterscheidet sich von Art und Umfang des digitalen Kontakts erheblich von Schulungen.
Patienteninformationen stellen zudem keinen adäquaten Ersatz für Schulungen dar, unter anderem weil ihnen das interaktive Element, der Austausch von Geschulten sowie die individuell gestaltete Anleitung für Aspekte des Selbstmanagement, fehlen. Statt bei bislang fehlenden Schulungen einen inadäquaten Ersatz zu ermöglichen, sollte besser die Forschung zu Schulungsprogrammen gefördert werden. Dies würde mittelfristig auch den Verweis auf die „Berücksichtigung der Versorgungsrealität“ obsolet machen, da dann gut evaluierte Schulungsprogramme die Regel darstellen werden.
Wir schlagen daher insgesamt vor, die vorgesehene Einführung des neuen Absatz 2a in § 137f sowie die damit verbundenen Änderungen in §137f Absatz 2 zu streichen und eine dezidierte Förderung der Forschung zu Patientenschulungen zu implementieren.
7 Einsparpotenzial fraglich, Gesamtkosten des Gesetzes unklar
Im Referentenentwurf wird ein Einsparpotenzial in Höhe von rund 510 Millionen pro Jahr ab vier Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes ermittelt. Auf Basis dieser Berechnung wird angenommen, dass die möglichen Einsparungen durch das Gesetz die durch die vorgesehenen gesetzlichen Regelungen entstehenden Kosten mittelfristig übersteigen.
Die vorgelegte Berechnung des Einsparpotenzials ist ungeeignet und daher nicht aussagekräftig. Bei der Berechnung wurden lediglich potenzielle Kostenreduktionen durch eine verringerte Krankheitslast bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen den entstehenden Ausgaben gegenübergestellt. Unabhängig von der Frage, ob die Reduktion der Krankheitslast durch die Maßnahmen überhaupt erreicht wird, da (noch) nicht evidenzbasierte Maßnahmen eingeführt werden sollen, fehlen Betrachtungen zu Kosten anderer Erkrankungen. Die mit den Maßnahmen erwünschte Verlängerung der Lebenserwartung führt auch zur Zunahme altersbedingter Erkrankungen wie z.B. Krebserkrankungen. Zudem sind die propagierten medikamentösen Maßnahmen potenziell mit behandlungsbedürftigen Nebenwirkungen verbunden. Bei falsch-positiv getesteten Personen sind Folgeuntersuchungen zur weiteren Abklärung erforderlich usw.
Ohne eine ganzheitliche Betrachtung dieser weiteren Kosten, z.B. im Rahmen einer Kosten-Nutzen-Bewertung mit längerem Zeithorizont und unter Berücksichtigung verschiedener Szenarien, ist die Bewertung des Einsparpotenzials aussagelos. Folglich sind die durch das Gesetz entstehenden Gesamtkosten derzeit nicht einschätzbar.