22.08.2019
NAM bei Lippen-Kiefer-Gaumenspalte: Vor- und Nachteile unklar wegen dürftiger Studienergebnisse
Magere Analysen von schlechter Qualität / Nur kurzfristige Ergebnisse zur Gesichtsästhetik / Keine Angaben zu Nebenwirkungen, Atmung, Gehör, Sprachentwicklung, Ernährung oder psychischer Entwicklung
In Deutschland sind jährlich etwa 1600 Neugeborene von einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte (LKGS) betroffen, und damit ist sie eine der häufigsten angeborenen Fehlbildungen. Sie kann in verschiedenen Ausprägungen vorkommen, und ihre Behandlung ist langwierig und komplex: Um die LKGS zu verschließen und die körperlichen Funktionsstörungen zu beheben, sind häufig mehrere operative Eingriffe erforderlich. Die Operationen stellen bereits zu Lebensbeginn eine große körperliche Belastung für den Säugling dar.
Ziel der Nasoalveolar-Molding-Methode (NAM) ist es, die Spalte vor der Operation so zu verkleinern, dass die Komplexität und die Anzahl der Operationen reduziert sowie das bestmögliche funktionelle und ästhetische Ergebnis für das Kind erzielt werden.
Doch sind Vor- und Nachteile der NAM-Methode bisher unklar: Die vorliegenden Studienergebnisse sind von schlechter Qualität und machen nur Aussagen zur Gesichtsästhetik und -symmetrie, aber nicht zu möglichen Nebenwirkungen.
Zu diesem Ergebnis kommt eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH), die im Auftrag des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) das Thema in einem HTA- Bericht (HTA = Health Technology Assessment) untersuchte.
Komplexe Behandlung für eine normale Entwicklung
Die Lippen-Kiefer-Gaumenspalte (LKGS) beeinträchtigt nicht nur die Gesichtsästhetik der Kinder sehr stark, sondern kann auch verschiedene körperliche Funktionen wie Atmung, Sprache, Gehör oder Nahrungsaufnahme einschränken. Behandlungsziele sind unter anderem die frühzeitige Korrektur der Fehlbildung, das Normalisieren der lebenswichtigen Funktionen und eine verbesserte Symmetrie des Gesichts – also wichtige Voraussetzungen für eine körperlich, emotional und sozial möglichst normale Entwicklung der betroffenen Kinder und Jugendlichen.
Bei Spaltbildungen, die neben dem Lippenbereich auch den Gaumen und die Nase betreffen, werden aufwendige chirurgische Behandlungen zur Korrektur notwendig. Häufig wird eine frühzeitige Schließung der Lippenspalten zum 4. bis 6. Lebensmonat angestrebt. Die NAM-Methode soll die Ausgangslage für die Operation verbessern sowie die Notwendigkeit späterer Folgeoperationen (insbesondere Nasenkorrekturen) minimieren: Eine individuell angefertigte Gaumenplatte mit Nasensteg soll den Spalt mittels Druck- und Zugkräften verkleinern. Komplexität und Anzahl der folgenden operativen Eingriffe sollen dadurch reduziert sowie das bestmögliche funktionelle und ästhetische Ergebnis für das Kind erzielt werden.
In Deutschland gibt es bisher nur wenige spezialisierte Kliniken, die eine NAM-Behandlung regelmäßig durchführen.
Keine belastbaren Aussagen zu Nutzen oder Schaden möglich
In den vier identifizierten Studien zur NAM-Behandlung geht es vorrangig um das Aussehen des Gesichts, etwa die Körpermaße der Nasenregion. Wichtige Einflüsse auf das Behandlungsergebnis, wie etwa die Ausprägung der Spaltfehlbildung, sind in den Studien nicht berücksichtigt. Zudem wurden die Studienteilnehmer meist nur über einen kurzen Zeitraum beobachtet. Ob eine NAM-Behandlung die gesundheitsbezogene Lebensqualität der Betroffenen oder körperliche Funktionen wie Atmung oder Sprache verbessert, wurde nicht untersucht. Auch Studienergebnisse zu Nebenwirkungen wie Schmerzen oder Narben sowie zur Anzahl und Dauer der Operationen fehlen. Aussagen zum Nutzen oder Schaden der NAM lassen sich deshalb aus diesen Studien nicht ableiten.
Generell fehlt bisher ein allgemein anerkannter Behandlungsstandard für Lippen-Kiefer-Gaumenspalten (LKGS), etwa in Form einer medizinischen Leitlinie.
Behandlungskosten bisher nicht regelhaft erstattet
Da es auch keine verlässlichen Daten für eine gesundheitsökonomische Bewertung des NAM-Verfahrens gibt, konnte das Wissenschaftlerteam der MHH nur Aussagen zu den Kosten der Behandlung machen: Gegenüber der Behandlung mit einer Gaumenplatte allein entstehen bei der NAM-Methode Zusatzkosten durch den Nasensteg und die 12 bis 16 zusätzlichen Kontrolltermine beim Kieferorthopäden. Die Mehrkosten in Höhe von etwa 900 bis 1400 Euro übernehmen die gesetzlichen Krankenkassen bisher nicht regelhaft.
Zu viele offene Fragen
Offen bleibt auch, inwieweit die NAM-Behandlung ethische und soziale Probleme abschwächt oder verstärkt, die als belastend erlebt werden können.
„Es ist bedenklich, dass Nutzen und Schaden der NAM-Methode nicht belegt sind“, meint Claudia Mischke, die als Leiterin des Bereichs Versorgung beim IQWiG auch den ThemenCheck Medizin mitverantwortet, und ergänzt: „Mangels hochwertiger wissenschaftlicher Untersuchungen hat das Wissenschaftlerteam der MHH für diesen HTA- Bericht auch Studien mit weniger aussagekräftigem Design berücksichtigt. Doch selbst diese widmen sich nicht den relevanten Fragen und sind letztlich nicht interpretierbar.“
Nicht zuletzt um die Betroffenen (gesundheitlich verletzliche Kinder und deren Eltern) nicht unnötigen Risiken auszusetzen, muss der medizinische Nutzen der NAM-Methode mit validen Daten untermauert werden – auch bezüglich der erklärten Ziele, nämlich weniger Operationen und bessere Behandlungsergebnisse. Diese Aspekte sollten zukünftig in hochwertigen Studien mit höherer Aussagesicherheit untersucht werden. Neue Erkenntnisse könnten in absehbarer Zeit zwei laufende randomisierte kontrollierte Studien (RCTs) bringen, die allerdings im Wesentlichen kurzfristige Daten zur Gesichtsästhetik erheben.
Bürger fragen, Wissenschaftler antworten
Das Thema für den vorliegenden HTA- Bericht geht auf den Vorschlag einer Bürgerin beim ThemenCheck Medizin des IQWiG zurück: Seit 2016 können alle Interessierten hier online ihre Fragen an die Wissenschaft stellen. Nach der Auswahl von bis zu fünf Themen pro Jahr werden die Antworten darauf in Form eines sogenannten HTA-Berichts gegeben: Darin wird nicht nur der medizinische Nutzen eines medizinischen Verfahrens bewertet, sondern auch seine wirtschaftlichen, ethischen, sozialen, rechtlichen und organisatorischen Auswirkungen.