14.05.2019
Medikamenten-Verblisterung für Pflegeheime: Viel diskutiert, aber kaum erforscht
Für Argumente pro und kontra fehlen belastbare Studiendaten / IQWiG macht Vorschlag für Studiendesign
Bei der Verblisterung portioniert und verpackt die Apotheke (oder ein von ihr beauftragter Dienstleister) die verordneten Medikamente einer Patientin oder eines Patienten nach Wochentagen und Tageszeiten sortiert in individuelle durchsichtige Verpackungen (Blister). So sieht man auf einen Blick, wann welche Tabletten zu nehmen sind und ob man an alle Einnahmen gedacht hat.
Seit einigen Jahren wird in Deutschland breit und kontrovers diskutiert, ob eine vermehrte Verblisterung für Pflegeheimbewohner geeignet ist, das System der Pflege zu entlasten und die Versorgung der Heimbewohner nachhaltig zu verbessern. Das Bundesgesundheitsministerium (BMG) hat deshalb das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) beauftragt zu prüfen, welche Erkenntnisse es dazu unter anderem aus Studien gibt. Der Bericht liegt nun vor.
Nach den Recherchen des IQWiG wurde die patientenindividuelle Verblisterung (PIV) auch international bislang ganz überwiegend für den ambulanten Bereich erforscht. Was die Verblisterung für Pflegeheime angeht, gibt es hingegen kaum belastbare Daten aus Studien. Auch die gängigen Argumente, die verschiedene Akteure und Interessengruppen jeweils für oder gegen eine vermehrte PIV in Pflegeheimen ins Feld führen, sind nicht wissenschaftlich belegbar. Das gilt gleichermaßen für den Aspekt der Wirtschaftlichkeit.
Mögliche Vor- und Nachteile
Nach Ansicht ihrer Befürworter spricht für die PIV, dass dann seltener Medikationsfehler auftreten. Denn je mehr Erkrankungen ein Heimbewohner hat, desto komplexer ist die Arzneimitteltherapie. Wenn Pflegekräfte bei der Organisation der Medikamentengabe entlastet würden, hätten sie mehr Zeit für die Zuwendung gegenüber dem einzelnen Patienten. Und das könnte wiederum die Arbeitszufriedenheit in der Pflege erhöhen und den Beruf attraktiver für den Nachwuchs machen.
Kritiker befürchten indes einen Kompetenzverlust, wenn zunehmend Aufgaben von Pflegefachpersonen auf andere Berufsgruppen verlagert werden. Möglicherweise verlören Patientinnen und Patienten zudem einen Teil ihrer Autonomie, weil sie noch weniger erkennen und entscheiden könnten, welche Arzneimittel sie einnehmen und welche nicht. Kritiker verweisen auch darauf, dass nicht alle Arzneimittel „blisterbar“ sind. Dies könnte die Medikamentengabe für die Pflegekräfte in den Heimen eher noch verkomplizieren, weil sie neben den Tabletten in den Blistern an eine zweite Medikamentenverteilung denken müssten.
Die Verblisterung verursacht erst einmal zusätzliche Kosten. Diese dürften aber zumindest teilweise kompensiert werden, wenn der „Verwurf“ schrumpft. Dadurch, dass nicht mehr jeder Patient eine vollständige Packung erhält, sondern nur die einzelnen Tabletten im Blister, wird insgesamt weniger weggeworfen.
Studien untersuchen PIV im ambulantem Sektor
Zwar fanden die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eine Reihe von Studien, die Aspekte des Nutzens der Verblisterung untersuchten. Doch alle bezogen sich auf ein ambulantes Setting. Solche Studien sind aber kaum auf den stationären Bereich übertragbar. Dies gilt vor allem deshalb, weil Menschen, die zuhause leben, noch in der Lage sein sollten, ihre Medikamente selbst zu handhaben. Keine Studie widmete sich der stationären Altenpflege.
Aus Deutschland stammen hauptsächlich Vorher-nachher-Vergleiche ohne Kontrollgruppe, die in Modellprojekten von Krankenkassen evaluiert wurden. Die Ergebnisse solcher Studien sind jedoch aus wissenschaftlicher Sicht wenig aussagekräftig – sowohl in Hinblick auf den Nutzen für die Heimbewohner (Symptome, Gesundheitszustand, Nebenwirkungen von Medikamenten etc.) als auch für die Pflegekräfte (fachliche Kompetenz, arbeitsbezogene Lebensqualität etc.). Nutzen und Schaden einer PIV im Pflegeheim bleiben somit unklar, bilanziert das IQWiG.
Aussagen zur Wirtschaftlichkeit nur mittels Schätzung möglich
Unzureichend ist die Studienlage auch in Hinblick auf die Wirtschaftlichkeit der Verblisterung für Pflegeheime. Hier konnte das Institut auf Basis unterschiedlicher Quellen jedoch mögliche Effekte auf die Wirtschaftlichkeit schätzen. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nahmen dabei an, dass ein Wochenblister rund 3 € kostet und die Medikamentenausgaben aufgrund geringeren Verwurfs um 4,1 % sinken. Fallen pro Woche und Heimbewohner mindestens 73,17 € an Kosten für verblisterte Arzneimittel an, wäre eine PIV kostenneutral. Das bezieht sich jedoch nur auf die Arzneimittelkosten. Andere monetäre Effekte (etwa infolge seltenerer Klinikeinweisungen) einzubeziehen, ist mangels Daten nicht möglich.
Auch Aussagen zu nicht monetären Effekten sind unsicher: Angenommen, rund die Hälfte bis zwei Drittel der insgesamt etwa 818.000 in Deutschland vollstationär versorgten Pflegebedürftigen erhielten verblisterte Arzneimittel, beliefe sich die Zeitersparnis für die Pflegekräfte auf ca. 22 bis 51 Minuten pro Monat und Bewohner.
Hoher Forschungsbedarf: IQWiG macht Vorschlag für Design neuer Studie
Das Institut konstatiert für die PIV in Pflegeheimen einen insgesamt hohen Forschungsbedarf. „Die Diskrepanz zwischen der breiten und teils vehement geführten Debatte um die PIV einerseits und der schlechten Datenlage andererseits hat uns doch überrascht“, kommentiert Thomas Kaiser, Leiter des Ressorts Arzneimittelbewertung im IQWiG. „Mit großer Verve argumentieren einzelne Akteure und Interessenvertreter für oder gegen die Verblisterung, ohne ihr Pro oder Kontra wissenschaftlich unterfüttern zu können“, so Kaiser. „Es ist gut, dass ein Auftrag des Gesundheitsministeriums dies nun offengelegt hat.“
Vor diesem Hintergrund hat das IQWiG das Konzept für eine künftige Studie entwickelt und in den Bericht integriert. „Unsere Recherche hat nämlich gezeigt, dass es zu anderen Fragestellungen durchaus hochwertige Studien in der stationären Pflege gibt und sie offenkundig machbar sind“, bekräftigt Kaiser.
Zum Ablauf der Berichtserstellung
Das BMG hatte das IQWiG im Juni 2018 beauftragt, den Bericht in einem beschleunigten Verfahren als sogenannten Rapid Report zu erarbeiten. Zwischenprodukte wurden daher nicht veröffentlicht und nicht zur Anhörung gestellt. Der vorliegende Rapid Report wurde am 29. März 2019 an den Auftraggeber geschickt.