02.07.2018
Hämophilie A und Sialorrhö: Vergleichstherapien nicht umgesetzt, Zusatznutzen nicht belegt
Aktuelle Versorgungsstandards in Studien nicht umgesetzt
Von den vier Dossierbewertungen, die das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) am 2. Juli veröffentlicht hat, haben zwei eine auffällige Gemeinsamkeit, bei völlig unterschiedlichen Indikationen: In beiden Fällen ist ein Zusatznutzen mangels geeigneter Studiendaten nicht belegt, obwohl es randomisierte kontrollierte Studien (RCTs) gibt, in denen die Wirkstoffe Effekte zeigten. Der Grund: Die Behandlung in den Vergleichsarmen der Studien blieb hinter den heutigen Versorgungsstandards zurück und entsprach nicht der zweckmäßigen Vergleichstherapie, die der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) für die jeweilige frühe Nutzenbewertung festgelegt hat.
Emicizumab bei Hämophilie A
Eine Hämophilie kann entweder prophylaktisch behandelt werden oder nur im Bedarfsfall, also etwa nach einem Stoß oder Sturz. Emicizumab ist der erste monoklonale Antikörper, der für Patienten mit Hämophilie A und Faktor-VIII-Hemmkörpern zugelassen wurde, und zwar nur zur Routineprophylaxe. Gerinnungsfaktoren werden dagegen sowohl zur Prophylaxe als auch bei Bedarf verabreicht. Bei einer Behandlung mit Gerinnungsfaktoren können Hemmkörper auftreten, die eine Modifikation der Behandlung erforderlich machen. Häufig werden dann sogenannte Bypassing-Wirkstoffe eingesetzt, die die übliche Gerinnungskaskade umgehen („Bypass“) und daher nicht von den Hemmkörpern beeinflusst werden. Auch Emicizumab führt zu einer veränderten und von den Hemmkörpern unbeeinflussten Aktivierung der Blutgerinnung.
Die bisher bei Hemmkörpern eingesetzten Arzneimittel werden intravenös injiziert, während Emicizumab einmal wöchentlich subkutan verabreicht wird. Daher setzen viele Betroffene Hoffnungen auf den neuen Wirkstoff.
Der Hersteller postuliert einen Zusatznutzen und begründet das unter anderem mit einem randomisierten kontrollierten Vergleich zwischen Emicizumab und einer Bedarfsbehandlung mit herkömmlichen Präparaten im Rahmen der Studie HAVEN1. Der G-BA hat jedoch ausdrücklich eine Routineprophylaxe zur zweckmäßigen Vergleichstherapie bestimmt, da diese nach derzeitigem Wissensstand Vorteile gegenüber einer Bedarfsbehandlung hat. Daher lässt sich aus HAVEN1 kein Zusatznutzen ableiten. Auch die zusätzlich angeführten indirekten Vergleiche sind dafür nicht geeignet.
Glycopyrroniumbromid bei erhöhtem Speichelfluss
Kinder und Jugendliche mit einer chronischen neurologischen Erkrankung wie einer Zerebralparese haben oft einen stark erhöhten Speichelfluss. Bislang war für diese Indikation in Deutschland kein Arzneimittel zugelassen. Therapien, die das Herunterschlucken des Speichels fördern, können aber zu Verbesserungen führen – etwa Logopädie und Ergotherapie.
Als zweckmäßige Vergleichstherapie hat der G-BABest supportive Care (BSC) festgelegt. Darunter versteht man eine unterstützende, auf die einzelnen Patienten abgestimmte Behandlung zur Linderung der Symptome und Verbesserung der Lebensqualität. Der Hersteller des neuen Wirkstoffs Glycopyrroniumbromid führt für den postulierten Zusatznutzen zwei placebokontrollierte RCTs und eine weitere Studie an. In den Studienunterlagen deutet aber nichts darauf hin, dass die Kinder und Jugendlichen eine unterstützende Begleitbehandlung erhalten haben. Auch aus der dritten Studie, in der es keinen Vergleichsarm gab, lässt sich ein Zusatznutzen nicht ableiten.
Bei der Studienplanung schon an die frühe Nutzenbewertung denken
„Um mit dem Positiven zu beginnen: Hier bestätigt sich, dass RCTs auch bei relativ seltenen Erkrankungen machbar sind, und zwar auch mit Kindern und Jugendlichen“, erklärt dazu Stefan Lange, stellvertretender Leiter des IQWiG. „Und die neuen Wirkstoffe zeigen in diesen Studien deutliche Effekte.“ Umso bedauerlicher sei es, dass in den Hersteller-Dossiers auch sieben Jahre nach Einführung der frühen Nutzenbewertung immer noch Studien angeführt werden, in denen die Kontrollgruppen nicht dem Versorgungsstandard entsprechend behandelt wurden. „Die Patientinnen und Patienten in den Vergleichsarmen der Studien haben nicht die bestmögliche Behandlung erhalten, nämlich eine Prophylaxe bei der Hämophilie und beispielsweise Logopädie oder Ergotherapie bei der Sialorrhö. Solche Studien sind grundlegend ungeeignet für die Ableitung eines Zusatznutzens.“
G-BA beschließt über Ausmaß des Zusatznutzens
Die Dossierbewertungen sind Teil der frühen Nutzenbewertung gemäß Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG), die der G-BA verantwortet. Nach Publikation der Dossierbewertungen führt der G-BA Stellungnahmeverfahren durch und fasst Beschlüsse über das Ausmaß des jeweiligen Zusatznutzens.
Einen Überblick über die Ergebnisse der Nutzenbewertungen des IQWiG geben folgende Kurzfassungen. Auf der vom IQWiG herausgegebenen Website gesundheitsinformation.de finden Sie zudem allgemein verständliche Informationen.