04.10.2023

Multiple Sklerose: Kaum Evidenz für eine gute Patientenversorgung

Auch im Abschlussbericht bleiben viele Fragen zur Therapie von schubförmig remittierender MS offen, weil es an versorgungsnahen Studiendaten fehlt: Vorteile sind daher nur bei drei von zehn untersuchten Wirkstoffen zu sehen.

Mit der Bewertung von insgesamt zehn Wirkstoffen zur Behandlung von multipler Sklerose (MS), hatte der Gemeinsame Bundesausschuss das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) beauftragt: Die Immunmodulatoren Cladribin, Dimethylfumarat, Ozanimod, Ponesimod, Teriflunomid, Fingolimod sowie die monoklonalen Antikörper Alemtuzumab, Natalizumab, Ocrelizumab, Ofatumumab sollen günstig auf das Immunsystem von Betroffenen mit schubförmig wiederkehrender MS (Relapsing-Remitting Multiple Sclerosis, RRMS), der häufigsten Form von Multipler Sklerose, wirken.

Der Verlauf dieser chronischen Erkrankung kann stark variieren, so dass in unterschiedlichen Phasen jeweils andere Therapiestrategien notwendig sind. Die Vor- und Nachteile dieser Wirkstoffe bei Erwachsenen mit einer hochaktiven RRMS trotz Vorbehandlung hat das IQWiG daher in vier verschiedenen Therapiestrategien untersucht. Was dabei für die Betroffenen besonders wichtig ist, hat das IQWiG im persönlichen Gespräch erfahren: Welche Auswirkungen die Erkrankung auf Leben und Alltag hat und wie die Betroffenen damit umgehen, welche Ziele die Behandlung erreichen soll und welche Therapieerfahrungen sie bereits gemacht haben.

Therapeutische Ungewissheit durch Evidenzlücken nach der Zulassung

Die abschließenden Ergebnisse der Nutzenbewertung sind lückenhaft. Auch nach dem Stellungnahmeverfahren und der Erörterung liegen zum Vergleich der Wirkstoffe untereinander als Eskalationstherapie zwar für sieben der zehn Wirkstoffe Studiendaten vor, allerdings kaum direkt vergleichende Daten. Ergebnisse zu solchen direkten Vergleichen gibt es für drei Wirkstoffe: Demnach bieten Ofatumumab und Ponesimod einen höheren für Betroffene (jeweils im Vergleich mit Teriflunomid). Zu zwei Wirkstoffen haben Hersteller keine Daten für die Nutzenbewertung übermittelt.

In der einzigen Studie, die Daten zum Vergleich einer Eskalation gegenüber der Fortführung einer bestehenden Therapie liefert, ist Alemtuzumab als Eskalationstherapie einer Basistherapie mit Interferon-beta 1a überlegen. Aussagen zum Nutzen der 10 Wirkstoffe im Vergleich zueinander sind damit hier nicht möglich.

Ist die Krankheit inaktiv oder geht ein Wirkstoff mit intolerablen Nebenwirkungen einher, könnte auch eine Deeskalation, also eine Reduzierung der Dosis oder der Wirkstoffe, sinnvoll sein. Für solche Behandlungsstrategien fehlen allerdings relevante Studien, obwohl sie für viele Betroffene wichtige Behandlungsansätze darstellen.

Versorgungslücken endlich schließen – für eine gute Patientenversorgung

Die IQWiG-Bewertung ist die erste Untersuchung zum Vergleich der bis 2021 zugelassenen Wirkstoffe innerhalb der Eskalationstherapie bei Patientinnen und Patienten mit hochaktiver RRMS und einer Vorbehandlung. Neben den Vorteilen, die drei von zehn Wirkstoffen zeigen, ist der enorme Umfang der Forschungslücken ein weiteres zentrales Ergebnis.

„Unsere Nutzenabwägung basiert nur auf Vergleichen der Eskalationstherapie. Für den überwiegenden Teil der weiteren Vergleiche und Therapiestrategien fehlen Daten. Zu zwei Wirkstoffen haben uns Hersteller die notwendigen Unterlagen auch nach Stellungnahmeverfahren und Erörterung nicht übermittelt – dazu wäre eine gesetzliche Verpflichtung wünschenswert. Teilweise wurden zudem relevante Zielgrößen in einzelnen Studien nicht erhoben“, sagt IQWiG-Leiter Thomas Kaiser, und ergänzt: „Das Problem ist: Es liegen nur wenige direkt vergleichende Studien vor, indirekte Vergleiche lassen sich mit den vorhandenen Studien aber nur begrenzt durchführen. Und zu zwei versorgungsrelevanten Fragestellungen wurden gar keine Studien durchgeführt.“

„Der zeigt, dass versorgungsrelevante Daten in großem Umfang fehlen.“, sagt Daniela Preukschat, Bereichsleiterin für Chronische Erkrankungen im IQWiG-Ressort Arzneimittel. „Unabdingbar ist, dass patientenrelevante Zielgrößen Teil der Studienplanung werden, beispielsweise Sehstörungen, Fatigue und gesundheitsbezogene Lebensqualität. Wie wichtig diese Endpunkte, aber insbesondere zu einer gezielten Deeskalation und Langzeitbeobachtungen für Betroffene sind, zeigte sich auch im Verlauf der mündlichen Erörterung zum .“

Diese Forschungslücken ließen sich aus Sicht des Institutsleiters Thomas Kaiser durch ergebnissichere vergleichende Studien, insbesondere registerbasierte randomisierte kontrollierte Studien (RRCT), wirksam schließen. Kaiser: „Die strukturellen Hindernisse für die Evidenzlücken, beispielsweise Fragen der Finanzierung der oft hochpreisigen Studienmedikation oder auch organisatorische Hürden, lassen sich beseitigen. Die laufenden Überlegungen zum Registergesetz enthalten bereits wirksame Ansatzpunkte dafür. Im Bereich Multiple Sklerose haben wir mit dem MS-Register gute strukturelle Voraussetzungen, um eine RRCT zu Deeskalationsstrategien durchzuführen. Die Erörterung zu unserem Bericht zeigt: Mit einer gemeinsamen Anstrengung von Selbsthilfe, Fachgesellschaft und Industrie sollte dies möglich sein.“

Zum Ablauf der Berichtserstellung

Der hat das IQWiG am 16.07.2020 mit der Nutzenbewertung von „Alemtuzumab, Cladribin, Dimethylfumarat, Fingolimod, Natalizumab, Ocrelizumab, Ofatumumab, Ozanimod, Ponesimod und Teriflunomid zur Behandlung Erwachsener mit hochaktiver schubförmig-remittierender Multipler Sklerose“ beauftragt. Die vorläufigen Ergebnisse, den Vorbericht, veröffentlichte das IQWiG im April 2023 und stellte sie zur Diskussion. Nach Ende des Stellungnahmeverfahrens wurde der Bericht überarbeitet und im September 2023 als an den Auftraggeber versandt. Die eingereichten schriftlichen Stellungnahmen zum Vorbericht werden in eigenen Dokumenten zeitgleich mit den Abschlussberichten publiziert. In die Bearbeitung des Projekts hat das Institut externe Sachverständigen eingebunden.

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