10.10.2014

Seltene Erkrankungen: kein Grund für niedrigere Ansprüche an Studien

Selbst bei sehr seltenen Erkrankungen sind RCTs die Regel

Ob bei der Durchführung, Auswertung und Bewertung der von Studien zu seltenen Erkrankungen methodische Besonderheiten zu berücksichtigen sind, hat das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) untersucht. Im Rahmen desselben Auftrags hat das Institut auch die Studiengrundlage für die Zulassung von sogenannten Orphan Drugs, d. h. Medikamenten für seltene Erkrankungen, in Europa analysiert.

Das Ergebnis: Für eine andere Herangehensweise als bei häufigeren Erkrankungen gibt es weder wissenschaftliche Gründe noch spezielle Designs und Methoden, die nicht auch für häufigere Erkrankungen relevant wären. Das gilt sowohl für medikamentöse als auch für nichtmedikamentöse Behandlungen. Sind wegen besonders geringer Teilnehmerzahlen Kompromisse bei der Aussagesicherheit erforderlich, so ist eine Anhebung des statistischen Irrtumsniveaus einer Einschränkung der externen oder gar der internen der Studien vorzuziehen.

Seltene Erkrankungen im Fokus

In der EU werden solche Erkrankungen als selten bezeichnet, die bei höchstens fünf von 10.000 Einwohnern vorliegen. Bei weniger als zwei von 100.000 Einwohnern kann man von einer sehr seltenen Erkrankung sprechen. Von ungefähr 30.000 bekannten Krankheiten gelten 7000 bis 8000 als selten, sodass allein in Deutschland bis zu vier Millionen Menschen betroffen sind.

Im Rahmen des 2010 gegründeten Nationalen Aktionsbündnisses für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE) wurde ein Maßnahmenkatalog erarbeitet, der unter anderem die Entwicklung von Kriterien zur Bewertung und Auswertung von Studien mit wenigen Teilnehmern umfasst. Vor diesem Hintergrund hat das BMG dem IQWiG einen zweiteiligen Auftrag erteilt, dessen Ergebnisse nun als sogenannter veröffentlicht werden. Er schließt inhaltlich an den zur in Leitlinien für seltene Erkrankungen an, den das IQWiG 2011 ebenfalls im Auftrag des BMG erstellt hat.

RCT als Goldstandard

Wie das IQWiG in seinem erläutert, bestimmen im Wesentlichen vier Komponenten die Aussagesicherheit einer Studie: die interne (also das Verzerrungspotenzial), die externe (also die Anwendbarkeit), die Effektstärke und die Präzision der Ergebnisse. Das Verzerrungspotenzial kann durch eine , Doppelblindheit und das sogenannte Intention-to-treat-Prinzip minimiert werden, d. h. im Rahmen von randomisierten kontrollierten Studien, kurz RCTs.

Gelegentlich plädieren Studiensponsoren bei seltenen Erkrankungen für eine Absenkung der sonst üblichen methodischen Standards für klinische Studien, da RTCs wegen der geringen Teilnehmerzahlen schwierig und zudem beim Fehlen wirksamer Vergleichstherapien ethisch zweifelhaft seien. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des IQWiG kommen zu einem anderen Schluss: Eine geringe Teilnehmerzahl ist bei allen Studientypen gleichermaßen problematisch, und ethisch zweifelhaft sind kontrollierte Studien nur dann, wenn der oder der zu prüfenden Intervention bereits mehr oder weniger belegt ist. Dann erübrigen sich weitere Studien zur Klärung der Nutzenfrage aber ohnehin – nicht nur bei seltenen Erkrankungen.

Zur Not das Irrtumsniveau heraufsetzen

Genau wie eine reduzierte interne , die das Verzerrungspotenzial erhöht, können auch Abstriche bei der externen zu systematischen Fehlern führen, die durch keine noch so ausgefeilte statistische Methode ausgeglichen werden können.

Geringe Effektstärken lassen sich nur durch hinreichend hohe Studienfallzahlen sicher ermitteln. Sinnvoll sind vernetzte, überregionale bzw. internationale Strukturen sowie möglichst vollzählige und vollständige Krankheitsregister, um genug auswertbare Fälle zu versammeln. Durch den Einsatz effizienter statistischer Verfahren, z. B. sequenzielle Studiendesigns, lassen sich unter Umständen Fallzahlen einsparen, ohne die interne oder externe zu beeinträchtigen.

Reicht das bei sehr seltenen Erkrankungen nicht aus, empfehlen die IQWiG-Wissenschaftlerinnen und -Wissenschaftler einen Kompromiss bei der Präzision: eine Anhebung des statistischen Irrtumsniveaus, zum Beispiel von den üblichen fünf Prozent auf zehn Prozent, um trotz geringer Fallzahl zu statistisch signifikanten Ergebnissen zu gelangen. Denn so lässt sich die Irrtumswahrscheinlichkeit wenigstens quantifizieren: Man weiß, wie unsicher eine entsprechende Entscheidung ist.

Empirie bekräftigt methodische Expertise

Für das zweite Ziel des Auftrags hat das IQWiG alle 85 zwischen 2001 und 2013 in Europa erfolgten Arzneimittelzulassungen für seltene und sehr seltene Erkrankungen untersucht. Von 125 im Rahmen dieser Zulassungen eingereichten Studien waren 82 RCTs, was deutlich zeigt: Es geht ohne methodische Aufweichung. Die meisten Studien wurden multizentrisch, multinational und multikontinental durchgeführt. Spezielle, auf hohe Effizienz abzielende statistische Verfahren kamen in etwa zwei Drittel der Studien zum Einsatz.

Alle Betroffenen haben Anspruch auf Qualität

„Wie sich zeigt, ist ein methodischer Sonderweg bei Studien zu seltenen Erkrankungen weder notwendig noch ohne Qualitätseinbußen möglich“, fasst Institutsleiter Jürgen Windeler zusammen. „Vorbehalte gegen RTCs bei seltenen Erkrankungen sind in den meisten Fällen unberechtigt.“

Schon in der EU-Verordnung Nr. 141/2000 war festgehalten worden, dass Patienten mit seltenen Leiden denselben Anspruch auf Qualität, Unbedenklichkeit und Wirksamkeit von Arzneimitteln haben wie andere Patienten und dass die entsprechenden Arzneimittel dem normalen Bewertungsverfahren unterliegen sollten. „Am besten“, so Windeler, „wird man diesen Vorgaben durch multizentrische RCTs gerecht, bei denen das Verzerrungspotenzial minimiert und die erhobenen Daten sorgfältig ausgewertet werden. So kann man trotz überschaubarer Teilnehmerzahl den und Schaden der Intervention für die Betroffenen hinreichend sicher einschätzen.“

Zum Ablauf der Berichtserstellung

Das BMG hatte dem IQWiG seinen Auftrag im Dezember 2013 erteilt. Der sollte in einem beschleunigten Verfahren als sogenannter erarbeitet werden. Im Unterschied zum sonst üblichen Prozedere werden hier keine Vorberichte veröffentlicht. Zwar wird eine Vorversion des Berichts extern begutachtet, es entfällt aber die , bei der alle Interessierten Stellungnahmen abgeben können. Der wurde am 8. September 2014 an den Auftraggeber versandt.

Einen Überblick über Hintergrund, Vorgehensweise und weitere Ergebnisse des Berichts gibt folgende Kurzfassung.

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