18.05.2010

Keine Vorteile für Insulinanaloga. Fester Spritz-Ess-Abstand bei Humaninsulin ist unnötig

Interview mit Peter Sawicki, Leiter des IQWIG

Frage: Der Streit um die Insulin-Analoga begleitet das IQWiG seit 2005. Jetzt sorgen sich Eltern von Kindern mit Typ-1-Diabetes, dass die Krankenkassen in Zukunft die Kosten für die kurzwirksamen Insulin-Analoga nicht mehr übernehmen. Ist diese Sorge berechtigt?

Sawicki: Diese Entscheidung trifft alleine der Gemeinsame Bundesauschuss (G-BA) und ich kann da keine Prognose abgeben. Es ist aber so, dass der schon in einer ähnlichen Situation eine Entscheidung gefällt hat, nachdem das IQWiG die kurzwirksamen Insulinanaloga für Erwachsene mit Typ-2-Diabetes bewertet hatte. Auch für diese Patientengruppe hatten wir festgestellt, dass für kurzwirksame Insulinanaloga keine Vorteile gegenüber Humaninsulin nachgewiesen sind. Der hatte daraufhin beschlossen, dass die kurzwirksamen Insulinanaloga nicht verordnet werden können, solange die Behandlung teurer ist als mit Humaninsulin. Die Folge war, dass die Hersteller der Analoga den Kassen Rabatte einräumten. Die Patienten konnten also die Analoga weiter verwenden, für die Versichertengemeinschaft sanken jedoch die Kosten. Auch damals wurden die Patienten unnötig in Sorge versetzt.

Frage: Das heißt, Eltern können entspannt sein?

Sawicki: Ich verstehe die Verunsicherung. Da kommen viele Gründe zusammen. Eine Erkrankung wie Typ-1-Diabetes ist für Eltern und Kinder eine starke Belastung. Sie haben zwei Sorgen: Auf der einen Seite wollen sie vor den kurzfristigen und langfristigen Komplikationen eines Diabetes geschützt sein. Auf der anderen Seite soll das Leben der Kinder und der Familien so normal wie möglich sein. Essen, Spielen, Sport - all das soll spontan und flexibel möglich sein - oder zumindest ähnlich wie bei Kindern, die kein Insulin spritzen müssen.

Frage: Viele Eltern sind ja gerade überzeugt, dass beides mit Insulinanaloga besser geht als mit Humaninsulin.

Sawicki: Natürlich kommen Kinder mit Insulinanaloga meist gut zurecht. Die Frage ist aber, ob sie damit besser zurechtkommen als mit Humaninsulin. Nur dann wäre doch die Bevorzugung der Analoga gerechtfertigt.

Frage: Zählt denn der Alltag nicht? Gerade die Flexibilität spricht doch für die Insulinanaloga. Einige Ärzte behaupten, dass bei Humaninsulin eine feste Zeitspanne vor den Mahlzeiten eingehalten werden müsse, der sogenannte Spritz-Ess-Abstand. Gerade bei kleinen Kindern wissen die Eltern vor der Mahlzeit nicht, was und wie viel die Kinder tatsächlich essen werden. Deshalb muss die Menge des Insulins unmittelbar vor dem Essen angepasst werden können. Das gehe nur mit Analoginsulinen. Stimmt das denn nicht?

Sawicki: Der angeblich notwendige feste Spritz-Ess-Abstand bei der Verwendung von Humaninsulins ist wohl das wichtigste Werbeargument für die Insulinanaloga, oder vielmehr gegen das Humaninsulin. Oft wird behauptet, dass Humaninsulin eine halbe Stunde oder länger vor einer Mahlzeit injiziert werden sollte und bei Analoga sei dies nicht notwendig. Tatsächlich gibt es aber für diese Auflage keine solide wissenschaftliche Begründung. Selbst die vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) genehmigten Fachinformationen zu den in Deutschland zugelassenen Humaninsulinen enthalten keine eindeutige Festlegung eines Spritz-Ess-Abstandes. Auch in den Schulungsprogrammen zu Typ-1-Diabetes der Deutschen Diabetes Gesellschaft spielt ein fester Spritz-Ess-Abstand keine Rolle. Ärzte, Eltern und Kinder können Humaninsulin grundsätzlich genauso flexibel einsetzen wie kurzwirksame Insulinanaloga.

Frage: Das ist für viele Eltern schwer zu glauben, wenn die Mehrheit ihrer Ärzte das Gegenteil behauptet.

Sawicki: Ja, das kann ich nachvollziehen. Eltern haben natürlich mehr Vertrauen zu dem Arzt, der ihnen das Analoginsulin empfohlen hat, als zu einem wissenschaftlichen Institut, das ihr Kind nicht kennt. Wir können tatsächlich nur den Regelfall beschreiben und nicht einen bestimmten Einzelfall. Aber auch bei Einzelfallbeschreibungen hören wir zu. Die Erfahrung der Eltern ist, dass die Kinder mit dem Analoginsulin relativ gut zurecht kommen. Aber kommen sie mit den Analoga besser zurecht als mit Humaninsulin ohne die Verwendung eines festen Spritz-Ess-Abstandes? Mir schreiben viele besorgte Eltern und die meisten rufe ich dann selbst an. Nur die allerwenigsten berichten, dass sie Insulinanaloga verwenden, weil sie mit Humaninsulin nicht zurechtgekommen sind. Ich glaube, dass Patienten mit Diabetes oft unnötige Vorschriften zum Humaninsulin gemacht werden. Ohne diese Vorschriften kämen die Patienten mit Humaninsulin genauso gut oder sogar besser zurecht als mit Analoga.

Frage: Warum halten Sie den Spritz-Ess-Abstand nicht für notwendig?

Sawicki: Die Begründung des Spitz-Ess-Abstands beruht ja auf Vergleichen von abstrakten Insulinwirkkurven, die in Laborversuchen gemessen wurden. Im täglichen Leben außerhalb des Labors wirken sich solche potenziellen Unterschiede in der Insulinkinetik aber kaum auf die Stoffwechseleinstellung aus. Viel wichtiger sind unter anderem die Menge des gespritzten Insulins, die Höhe des Blutzuckerspiegels vor der Mahlzeit, die individuell unterschiedliche Insulinempfindlichkeit, die Zusammensetzung der Nahrung, körperliche Belastung und der Ort der Injektion. Was praktisch zählt, ist die Qualität der Blutzuckereinstellung gemessen an dem sogenannten HbA1c-Wert und nicht künstliche Blutzuckerverläufe im Labor. Sehr viele Patienten spritzen Humaninsulin. Ich halte es für ärztlich unverantwortlich, diesen Patienten nicht notwendige Auflagen aufzuzwingen, die ihre Lebensqualität einschränken.

Frage: Wenn man mit Studien argumentiert, empfinden das offenbar viele Patienten als Bevormundung. Patienten und Patientenorganisationen werfen dem IQWiG ja immer wieder vor, es kümmere sich nicht um die Sicht der Patienten.

Sawicki: Ich behaupte das genaue Gegenteil. Wir stellen uns für unsere Arbeit immer zuerst die Frage: Was ist für Patienten wichtig? Und dann suchen wir nach Daten zum Beispiel zu Unterzuckerungen und Komplikationen, aber auch nach Vergleichen der Lebensqualität - das sind alles Aspekte, die die Patienten interessieren. Als wissenschaftliches Institut konzentrieren wir uns natürlich auf wissenschaftliche Studien, die zuverlässige Schlussfolgerungen erlauben. Und im Fall der Insuline haben wir gefunden, dass keine Vorteile der Analoga belegt sind, aber mögliche Nachteile nicht ausreichend untersucht wurden. Ich wundere mich sehr, warum kein Ärzte- oder Patientenverband sich über die Tatsache aufregt, dass Medikamente, die seit zehn Jahren bei Kindern eingesetzt werden, immer noch nicht in verlässlichen Studien ausreichend untersucht sind. Für mich ist das der eigentliche Skandal. Stattdessen schimpft man auf uns, weil wir die Missstände beim Namen nennen.

Frage: Manche Verbände bestreiten ja, dass es diese Wissenslücken gibt. Man müsse auch die Patienten danach fragen, was ihnen wichtig ist.

Sawicki: Einverstanden, dann muss man aber faire Fragen stellen. Denn auch die Erfahrungen von Patienten, die Humaninsulin ohne unnötige Vorschriften verwenden, sind hervorragend. Und man müsste den Patienten auch sagen, welche potenziellen Risiken sie mit ungenügend untersuchten Medikamenten eingehen.

Frage: Was kann schon schiefgehen mit Insulinanaloga?

Sawicki: Naja, das sind ja eben die Wissenslücken, weil gute Untersuchungen dazu bei Kindern nicht vorliegen. Die Sicherheit der Insulinanaloga ist nicht ausreichend belegt. Insulinanaloga haben sehr viele Wirkungen über die Blutzuckersenkung hinaus. Wir wissen zum Beispiel viel zu wenig, wie sie sich bei Kindern auf Wachstum und Entwicklung auswirken.

Es gibt aber noch mehr Probleme. Unsere Auswertung der Studien hat zum Beispiel ergeben, dass bei Kindern und Jugendlichen unter kurzwirksamen Insulinanaloga rein zahlenmäßig häufiger als unter Humaninsulin sogenannte Ketoazidosen auftraten; dies sind seltene, aber lebensbedrohliche Komplikation des Diabetes. Davon waren insgesamt etwa 2 bis 5 % der Kinder betroffen. Seit 10 Jahren warten wir vergeblich auf größere und längere Studien, die untersuchen sollten, ob Insulinanaloga das für Ketoazidosen bei Kindern erhöhen. Solange dieser und andere Aspekte aber nicht geklärt sind, plädieren wir dafür, bei der Verwendung der Insulinanaloga sehr zurückhaltend zu sein, zumal sie im Regelfall keinerlei Vorteile bieten.

Frage: Wer sollte solche Studien machen?

Sawicki: Ich sehe zuerst die Hersteller in der Verantwortung, ihre Medikamente, mit denen sie viel Geld verdienen, auch ausreichend zu untersuchen. Das werden sie aber nur tun, wenn Ärzte kritisch bleiben und solche guten Studien fordern, statt sich mit Werbebotschaften zu begnügen.

Frage: Auch manche Ärzte stehen Studien ja generell kritisch gegenüber, weil es ihnen auf den Einzelfall ankomme. Und der gehe in Studien unter.

Sawicki: Studien zeigen den Regelfall. Wenn also in der Regel Insulinanaloga besser wären als Humaninsulin, dann hätte man das in den Studien sehen müssen, die das IQWiG ausgewertet hat. Das war aber nicht der Fall. Es stimmt natürlich, dass Studien Ausnahmen und seltene Fälle übersehen können. Deswegen haben wir in Deutschland ja die Regelung, dass für solche Patienten jeder Arzt auch Medikamente auf Krankenkassenkosten verordnen kann, die eigentlich ausgeschlossen sind. Nur ist das dann eben eine Ausnahme, die der Arzt im Einzelfall begründen muss. Jeder Arzt hat also immer die Möglichkeit auf einen besonderen Patienten auch besonders zu reagieren.


Kontakt: Tel. 0221-35685-0, info@iqwig.de

Kontakt für die Presse

Der IQWiG-Infodienst

Tagesaktuelle Informationen zu Projekten, Ausschreibungen, Stellenanzeigen und Veranstaltungen sowie unsere Pressemitteilungen abonnieren.

IQWiG-Infodienst abonnieren

Kontaktformular

Fragen zu Aufträgen, Publikationen und Pressemitteilungen können Sie über dieses E-Mail-Formular an uns richten.

zum Kontaktformular