06.06.2007
Kurzwirksame Insulinanaloga bei Diabetes mellitus Typ 1: Überlegenheit ist nicht belegt
Hochwertige Langzeitstudien fehlen / Nicht alle Studien vollständig publiziert
Derzeit gibt es keine Belege für eine Überlegenheit kurzwirksamer Insulinanaloga gegenüber Humaninsulin bei der Behandlung von erwachsenen Patienten mit Diabetes mellitus Typ 1. Die Aussagekraft und das Design bisher verfügbarer Studien sind unzureichend und lassen keine Rückschlüsse auf die meisten patientenrelevante Therapieziele wie die Verminderung von Folgekomplikationen oder die Gesamtsterblichkeit zu. Bei Kindern und Jugendlichen ist der Nutzen mangels Daten unklar. Zwar hat ein Hersteller für diese Patientengruppe vergleichende Studien über einen längeren Zeitraum durchgeführt, hält die Ergebnisse aber zum Teil unter Verschluss. Zu diesem Ergebnis kommt der Abschlussbericht des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), den die Kölner Wissenschaftler am 6. Juni 2007 veröffentlicht haben.
Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) hatte das IQWIG beauftragt, zum einen den Nutzen der kurzwirksamen Insulinanaloga im Vergleich zu kurzwirksamem Humaninsulin zu bewerten und zum anderen die verschiedenen Insulinanaloga gegeneinander abzuwägen. Geprüft hat das IQWiG alle drei in Deutschland zugelassenen Wirkstoffe: Insulin Aspart (Handelsname: Novorapid), Insulin Lispro (Handelsname Humalog, Liprolog) und Insulin Glulisin (Handelsname: Apidra).
Auswirkungen frühestens nach sechs Monaten feststellbar
Bei ihrer Recherche fanden die IQWiG-Wissenschaftler insgesamt 9 veröffentlichte Vergleichsstudien, in denen die Patienten über mindestens 24 Wochen beobachtet wurden. Es wurden nur Studien dieser Mindestlaufzeit einbezogen, weil sie ausreichend Zeit lassen, um Patienten auf die neuen Medikamente "einzustellen" und erst dann die Wirkung unter stabiler Anwendung zu beobachten. Acht dieser Studien verglichen entweder Insulin Aspart oder Insulin Lispro mit Humaninsulin; eine entsprechende Studie zu Glulisin gibt es nicht. Die einzige Studie, die zwei Analog-Substanzen gegenüberstellt, befasst sich mit Glulisin und Lispro.
Keine Langzeitstudien zur Insulinpumpentherapie
Zur Insulinpumpentherapie mit Insulinanaloga gibt es keine Studie mit einer Laufzeit von mindestens 24 Wochen, weshalb unklar bleibt, ob und welchen Vorteil die Patienten von dieser Form der Anwendung haben können. Das gilt auch für Kinder und Jugendliche, denn auch für sie sind bislang nur Kurzzeitstudien vollständig verfügbar. Die Firma Novo Nordisk hat zwei abgeschlossene Langzeitstudien mit Kindern und Jugendlichen finanziert. Beide sind aber bis heute nur zum Teil veröffentlicht. Novo Nordisk war - im Unterschied zu den Herstellern Sanofi und Lilly - nicht bereit, für den Bericht nötige Informationen zur Verfügung zu stellen.
Studien nicht verblindet
Auch die Aussagen der neun in die Bewertung einbezogenen Studien sind nur eingeschränkt belastbar. So war keine der Studien verblindet, d. h. Patient und Arzt wussten, welche Insulinart jeweils injiziert wurde. Ohne Verblindung besteht die Gefahr, dass sich Patienten im Wissen um den Typ ihres Insulins jeweils unterschiedlich verhalten und so die Ergebnisse der Studie verzerren. Zudem gab es in den Studienunterlagen zu wichtigen Fragen häufig widersprüchliche Aussagen, die sich nicht klären ließen.
Zu wichtigen Therapiezielen keine Aussagen möglich
Obwohl Patienten bereits seit 10 Jahren mit Analog-Insulinen behandelt werden, ist nach wie vor völlig unklar, wie sich die Insulinarten auf Folgekomplikationen des Typ-1-Diabetes, auf die Sterblichkeit und auf die Notwendigkeit von Klinikaufenthalten auswirken.
Was die Blutzuckersenkung gemessen am HbA1c-Wert betrifft, hatten mit Insulin Aspart behandelte Patienten in einigen Studien zwar im Durchschnitt niedrigere Werte. Diese statistischen Unterschiede waren aber so gering, dass sie gesundheitlich keine Auswirkungen erwarten lassen.
Nächtliche Unterzuckerungen zu vermeiden, könnte mit Insulin Lispro besser gelingen als mit Insulin Glulisin. Die einzige Studie, die Analoga-Substanzen untereinander vergleicht, liefert hier erste Hinweise, allerdings keine zuverlässigen Belege.
Regeln des fairen Vergleichs verletzt
In einigen Studien beurteilten mit Analoginsulinen behandelte Patienten ihre Lebensqualität besser und waren mit der Behandlung zufriedener als Patienten, die sich Humaninsulin spritzten. Als Beleg für einen Zusatznutzen wertet das IQWiG diesen Befund indes nicht, weil er nicht auf einem fairen Vergleich beruht: In der Humaninsulin-Gruppe waren die Probanden angewiesen, einen festen Spritz-Abstand vor den Mahlzeiten einzuhalten, nicht aber in der Analoga-Gruppe. Deshalb ist unklar, ob die größere Zufriedenheit durch die Substanzklasse selbst oder durch die von den Ärzten vorgegebenen unterschiedlichen Anwendungsvorschriften bedingt ist.
Zum Ablauf der Berichtserstellung
Den Vorbericht hatte das IQWiG am 4. September 2006 im Internet publiziert und zur Diskussion gestellt. Bis zum 2. Oktober gingen insgesamt 397 Stellungnahmen ein, wobei allerdings nur 37 als substanziell gelten konnten, d.h. entweder zusätzliche Studien benannten, die Interpretation der vom IQWiG bereits dargestellten Studien kritisierten oder die Methodik des Berichts hinterfragten und diese Argumente mit Literaturzitaten belegten. Ein großer Teil der übrigen Kommentare bestand aus Standardbriefen, die verschiedene Organisationen von Patienten oder ihren Angehörigen bereit gestellt hatten.
Offene Fragen aus den substanziellen Stellungnahmen wurden am 16. November 2006 mit den Autoren in Köln diskutiert. Das Protokoll dieser mündlichen Erörterung sowie die Stellungnahmen selbst sind in den Anhängen zum Abschlussbericht dokumentiert. Mit den dort vorgetragenen Argumenten setzt sich der Bericht insbesondere im Kapitel "Diskussion" (S. 114-133) detailliert auseinander. Der Abschlussbericht wurde vor dem in Kraft treten des GKV-WSG (1. April 2007) erstellt, abgeschlossen und dem Auftraggeber zugeleitet. Sollte der G-BA auf Basis des Abschlussberichts eine Richtlinienentscheidung treffen, wird diese ebenfalls zur Anhörung gestellt.
Die Rolle der kurzwirksamen Insulinanaloga bei der Behandlung des Typ-2-Diabetes war Gegenstand eines getrennten Auftrags, dessendas IQWiG bereits im Dezember 2005 veröffentlicht hatte. Auch hier kamen die Wissenschaftler zu dem Ergebnis, dass der Nachweis für einen Zusatznutzen der Analoga noch aussteht.
Ausführliche Informationen zur Behandlung mit Insulin finden Sie auf der IQWiG-Website www.gesundheitsinformation.de.
Kontakt: Tel. 0221-35685-0, info@iqwig.de