01.03.2021
Nusinersen bei SMA: Hinweis auf erheblichen Zusatznutzen bei Kindern mit frühem Krankheitsbeginn
Die Behandlung zögert eine dauerhafte Beatmung der Kinder hinaus und verlängert das Leben. Zudem entwickeln die Kinder mehr motorische Fähigkeiten.
Der Wirkstoff Nusinersen ist zur Behandlung von 5q-assoziierter spinaler Muskelatrophie (SMA) zugelassen. In einer frühen Nutzenbewertung hat das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) nun untersucht, ob der Wirkstoff Betroffenen einen Zusatznutzen gegenüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie bietet.
Demnach gibt es bei Kindern mit einem frühen Krankheitsbeginn (in den ersten sechs Lebensmonaten) einen Hinweis auf einen erheblichen Zusatznutzen im Vergleich zur bestmöglichen rein unterstützenden Behandlung (Best supportive Care = BSC). Für Kinder mit einem späteren Krankheitsbeginn hat der Hersteller keine relevanten Daten vorgelegt, sodass hier ein Zusatznutzen gegenüber BSC nicht belegt ist. Für Säuglinge, bei denen zwar noch keine Symptome auftreten, bei denen aber wegen einer bestimmten genetischen Disposition (nicht mehr als zwei SMN2-Genkopien) mit einem frühen Krankheitsbeginn zu rechnen ist, lässt sich aus den Studiendaten ein Anhaltspunkt für einen nicht quantifizierbaren Zusatznutzen von Nusinersen im Vergleich zu BSC ableiten.
Die 5q-assoziierte spinale Muskelatrophie – SMA
Bei der SMA sterben nach und nach bestimmte Nervenzellen im Rückenmark ab, die für die Bewegung der Muskulatur zuständig sind. Fehlen diese Nervenzellen, erhalten die Muskeln kein Bewegungssignal – sie bleiben ungenutzt und werden schwach. Dies beeinträchtigt die motorische Entwicklung eines Kindes. Ursache der 5q-assoziierten spinalen Muskelatrophie ist eine Veränderung der Erbinformation auf dem „Survival-Motor-Neuron“(SMN1)-Gen. Es befindet sich auf dem längeren Arm, dem sogenannten q-Arm, des 5. Chromosoms – daher rührt die Abkürzung „5q“. Man unterscheidet verschiedene Formen der 5q-assoziierten spinalen Muskelatrophie:
- Die infantile Form (SMA Typ 1) beginnt bereits in den ersten Lebenswochen. Ihre Folgen sind besonders schwerwiegend: Erkrankte Kinder lernen nicht, allein zu sitzen, und sie sterben unbehandelt meist bereits im Alter von ein bis zwei Jahren. Diese Form macht ungefähr die Hälfte aller erkrankten Kinder aus. An der infantilen Form erkranken in Deutschland bis zu 10 von 100.000 Neugeborenen.
- Die sonstigen Formen der spinalen Muskelatrophie beginnen nach dem sechsten Lebensmonat (SMA Typ 2, Typ 3 und Typ 4). Je später die Erkrankung ausbricht, desto mehr motorische Fähigkeiten kann ein Kind entwickeln, und umso höher ist seine Lebenserwartung.
Bewertung in drei Patientengruppen
Im Anwendungsgebiet lassen sich die Kinder mit frühem Krankheitsbeginn (SMA Typ 1) von denen mit späterem Krankheitsbeginn (SMA Typ 2, Typ 3 und Typ 4) abgrenzen. Darüber hinaus bildet die Gruppe der präsymptomatisch im Zuge des SMA-Neugeborenenscreenings diagnostizierten Kinder eine wichtige dritte Patientengruppe.
Die Ableitung des Zusatznutzens für Kinder mit frühem Krankheitsbeginn (SMA Typ 1) beruht auf Daten der Studie ENDEAR, einer randomisierten kontrollierten Studie (RCT) mit Patientinnen und Patienten mit genetisch dokumentierter 5q-assoziierter SMA, die bei Symptombeginn jünger als sechs Monate waren und die nicht mehr als zwei SMN2-Genkopien hatten. Aus der Studie ergibt sich insgesamt ein Hinweis auf einen erheblichen Zusatznutzen. Um einen Vorteil beim Gesamtüberleben zu erreichen, ist es dabei insbesondere entscheidend, dass Kinder mit frühem Symptombeginn (Alter: unter 12 Wochen) mit Nusinersen behandelt werden. Um Fortschritte bei der Symptomatik (Erreichen motorischer Meilensteine und dauerhafte Beatmung) zu erreichen, ist es wichtig, dass die Behandlung mit Nusinersen möglichst früh nach Symptombeginn initiiert wird.
Da der Hersteller für die Bewertung des Zusatznutzens von Nusinersen im Vergleich zur BSC bei Kindern mit späterem Krankheitsbeginn (Typ 2, Typ 3 und Typ 4) keine relevanten Daten vorgelegt hat, ist ein Zusatznutzen für diese Patientengruppe nicht belegt.
Für präsymptomatische Kinder mit 5q-assoziierter SMA liegen keine direkt vergleichenden RCTs zum Vergleich von Nusinersen mit der zweckmäßigen Vergleichstherapie BSC oder zu einem entsprechenden indirekten Vergleich auf Basis von RCTs vor. Unter bestimmten Umständen ist jedoch eine Übertragung von Evidenz von einer Population auf eine andere Population (ohne ausreichende Daten) möglich. Diese Umstände sah das IQWiG-Projektteam hier gegeben und übertrug deshalb den Zusatznutzen aus der ENDEAR-Studie für Kinder mit frühem Krankheitsbeginn auf präsymptomatische Patientinnen und Patienten (jeweils mit zwei SMN2-Genkopien). Wegen der damit einhergehenden größeren Unsicherheit der Bewertung ergibt sich für diese Patientengruppe zwar kein Hinweis, aber ein Anhaltspunkt für einen nicht quantifizierbaren Zusatznutzen von Nusinersen im Vergleich zu BSC.
Fortschritte bei der Behandlung von SMA
„Kinder mit TYP 1 SMA entwickeln mit Nusinersen mehr motorische Fähigkeiten, müssen erst später beatmet werden und leben länger“, fasst Beate Wieseler, Leiterin des IQWiG-Ressorts Arzneimittelbewertung, die Ergebnisse der frühen Nutzenbewertung zusammen. „Deshalb ist es gut, dass das SMA-Screening neuerdings Teil des Neugeborenenscreenings in der gesetzlichen Krankenversicherung ist und von den Krankenkassen bezahlt wird.“
Neben Nusinersen ist seit einem Jahr mit Onasemnogen-Abeparvovec ein zweiter Wirkstoff zur Behandlung der 5q-assozierten SMA zugelassen. Wegen der begrenzten Aussagekraft der bisher vorhandenen klinischen Daten ist der therapeutische Stellenwert von Onasemnogen-Abeparvovec im Vergleich zu Nusinersen noch nicht abschließend zu bewerten. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) hat den Hersteller von Onasemnogen-Abeparvovec deshalb zu einer anwendungsbegleitenden Datenerhebung verpflichtet, um die Evidenzlücke zu schließen. „Es wäre gut, wenn die so generierten versorgungsnahen Daten einen fairen Vergleich zwischen Nusinersen und Onasemnogen-Abeparvovec ermöglichten“, betont Wieseler.
G-BA beschließt über Ausmaß des Zusatznutzens
Die Dossierbewertung ist Teil der frühen Nutzenbewertung gemäß Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG), die der G-BA verantwortet. Nach Publikation der Dossierbewertung führt der G-BA ein Stellungnahmeverfahren durch und fasst einen abschließenden Beschluss über das Ausmaß des Zusatznutzens.
Einen Überblick über die Ergebnisse der Nutzenbewertung des IQWiG gibt folgende Kurzfassung. Auf der vom IQWiG herausgegebenen Website gesundheitsinformation.de finden Sie zudem allgemein verständliche Informationen.