13.10.2022
Myalgische Enzephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome: Vorbericht veröffentlicht
Das IQWiG bittet um Stellungnahmen (nach Fristverlängerung am 19.10.) jetzt bis zum 27. November – und rechnet angesichts seiner Zwischenergebnisse zum möglichen Nutzen zweier Therapien mit einer regen Beteiligung.
Im Frühjahr 2021 hatte das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) dem Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) den Auftrag erteilt, den aktuellen Kenntnisstand zur chronischen Erkrankung Myalgische Enzephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome (kurz: ME/CFS) aufzubereiten. Der nun veröffentlichte Vorbericht stellt ein Zwischenstadium des 2-jährigen Projekts dar, das vier Ziele verfolgt: Erstens wurde der aktuelle Wissensstand zum Krankheitsbild ME/CFS systematisch aufgearbeitet, von den Symptomen über mutmaßliche Ursachen und Diagnosekriterien bis hin zur Versorgungslage. Zweitens hat das Institut die Evidenz aus Studien zu verschiedenen Therapieoptionen kartiert. Drittens wurden zu zwei Therapieverfahren Nutzenbewertungen durchgeführt. Und viertens wurden auf der Basis dieser Ergebnisse und weiterer Literaturrecherchen allgemein verständliche Texte zur Erkrankung entworfen.
Alle interessierten Personen und Institutionen können zum Vorbericht Stellungnahmen abgeben, und zwar bis zum 11. November. Daran schließt sich eine digitale mündliche Erörterung an, zu der die Verfasserinnen und Verfasser formal vollständiger Stellungnahmen eingeladen werden. Dieser Beteiligungsprozess dient dazu, das Institut auf Anpassungs- oder Ergänzungsbedarf hinzuweisen. Parallel dazu führt das IQWiG eine Update-Recherche nach neuer Evidenz durch. Auf dieser Grundlage wird der Bericht überarbeitet und im Frühjahr 2023 als Abschlussbericht an das BMG übermittelt sowie auf der Website des Instituts publiziert. Dann werden auch die allgemein verständlichen Gesundheitsinformationen, deren Entwürfe Teil des Vorberichts sind, auf dem Portal gesundheitsinformation.de bereitgestellt.
Komplexe Erkrankung mit unklarer Ursache
ME/CFS ist eine chronische Erkrankung mit vielen möglichen Beschwerden. Dazu gehören unter anderem starke Erschöpfung oder Entkräftung, Schmerzen sowie Schlaf- und Konzentrationsstörungen. Typisch ist, dass sich die Symptome häufig schon nach leichten körperlichen oder geistigen Aktivitäten verschlimmern und dann tage- oder wochenlang anhalten können. Diese Symptomverschlimmerung nach Anstrengung wird Post-exertional Malaise oder PEM genannt. ME/CFS schränkt die Lebensqualität oft stark ein.
Was die Erkrankung verursacht, ist bislang ungeklärt. Deshalb beschreibt der Name ME/CFS vor allem die Beschwerden: Der Fachbegriff „ME“ steht eher für Muskelschwäche und Schmerzen, „CFS“ für chronische Erschöpfung. Die Erkrankung ist selbst vielen Ärztinnen und Ärzten noch nicht ausreichend bekannt.
„Unser Bericht zeigt, dass es sich um eine ernst zu nehmende Erkrankung handelt“, sagt Institutsleiter Jürgen Windeler. „In unseren Gesprächen haben uns Betroffene zudem beschrieben, dass sie immer wieder auf Hürden und Missverständnisse stoßen, die ihre Versorgung zusätzlich erschweren.“
Die im Vorbericht dokumentierte Auswertung qualitativer Forschung zu Erfahrungen und Informationsbedarf bestätigt das und zeigt zudem, dass Betroffene immer wieder die Erfahrung machen, dass ihre Beschwerden als Einbildung abgetan werden.
Bei der Diagnose fangen die Probleme an
In den letzten Jahrzehnten hat es bei der Definition der ME/CFS eine deutliche Weiterentwicklung gegeben. Heute ist das Vorliegen einer PEM ein zentrales diagnostisches Kriterium. Wenn man zur Schätzung, wie viele Betroffene es in Deutschland gibt, diese aktuellen Diagnosekriterien verwendet, kommt man auf vermutlich etwa 70 000 Erwachsene. Andere Schätzungen, die auf älteren Kriterien beruhen, belaufen sich auf 250 000 bis 400 000 ME/CFS-Betroffene.
Diese weite Spanne ist Folge der schwierigen Diagnose, die sich nicht auf klare Kriterien wie bestimmte Blutwerte berufen kann. Viele der Symptome kommen auch bei anderen Krankheiten vor. So kann etwa eine Fatigue, also eine starke, bis dahin nicht gekannte Erschöpfung oder Entkräftung, auch bei bestimmten Autoimmun- oder Tumorerkrankungen auftreten.
Indizien für Nutzen zweier Therapien – für einen Teil der Betroffenen
Die Evidenzkartierung der Therapieoptionen zeigte, dass es nur wenige Studien gibt, in denen die aktuellen Diagnosekriterien angewandt wurden und die sich für eine Nutzenbewertung eignen: Das Institut erachtete es nur für zwei Interventionen als sinnvoll, eine ausführlichere Nutzenbewertung durchzuführen, und zog dafür drei Studien heran. Aufgrund von Mängeln dieser Studien, etwa vagen Beschreibungen der Intervention oder nicht regelgerecht erhobenen Endpunkten, sind alle Schlussfolgerungen auf dieser Basis unsicher. Verglichen wurde zum einen die kognitive Verhaltenstherapie und zum anderen die sogenannte Graded Exercise Therapy (GET) mit einer Standardversorgung. Unter Graded Exercise Therapy oder Aktivierungstherapie versteht man eine schrittweise Erhöhung der körperlichen Aktivität, ausgehend von einem individuellen Ausgangswert.
Aus den Studien leitet das IQWiG für die kognitive Verhaltenstherapie einen Anhaltspunkt für einen kurz- bis mittelfristigen Nutzen ab, der sich etwa in den Endpunkten Fatigue, soziale Teilhabe oder Krankheitsgefühl nach Anstrengung ausdrückt. Längerfristig ist weder ein Vor- noch ein Nachteil zu erkennen.
Für die Graded Exercise Therapy zeigen sich in mehreren patientenrelevanten Endpunkten statistisch signifikante, aber sehr kleine Vorteile gegenüber der Standardtherapie. In den beiden Endpunkten allgemeines Beschwerdebild und Krankheitsgefühl nach Anstrengung sind die Vorteile deutlicher. Insgesamt gibt es sowohl kurz- als auch mittelfristig einen Anhaltspunkt für einen Nutzen der GET im Vergleich zur Standardbehandlung. Längerfristig ist wiederum weder ein Vor- noch ein Nachteil zu erkennen.
„Uns ist bewusst, dass gerade die GET in weiten Teilen der Selbsthilfeszene einen miserablen Ruf hat. Es gibt Berichte über deutliche Zustandsverschlechterungen im Zuge einer nach Schema F durchgezogenen Aktivierungstherapie, etwa im Rahmen einer Reha“, sagt Institutsleiter Jürgen Windeler. „Daher möchte ich dieses Ergebnis hier weiter einordnen. Erstens haben an den Studien nur leicht bis moderat erkrankte Personen teilgenommen. Inwieweit deren Ergebnisse auf schwer Erkrankte übertragbar sind, ist fraglich. Zweitens kann der schlechte Ruf der GET auch durch eine unangemessene Umsetzung gefördert worden sein, bei der beispielsweise das individuelle Ausgangsniveau nicht gut erhoben wurde.“
Die Betroffenen entscheiden
„Für viele Therapieformen gilt, dass sie manchen Betroffenen helfen können, anderen aber nicht. Das ist bei unseren Nutzenbewertungen der Regelfall, es gilt zum Beispiel auch für Krebsmedikamente: Bei der einen Person schlägt ein Wirkstoff gut an, bei einer zweiten tut sich nichts, einer dritten geht es schlechter. Dennoch kann es sein, dass wir dem Wirkstoff einen Anhaltspunkt für einen Nutzen zusprechen, weil die Vorteile im Mittel überwiegen.“
Sowohl für die kognitive Verhaltenstherapie als auch für die Aktivierungstherapie gelte jedenfalls das Gebot der informierten gemeinsamen Entscheidungsfindung: „Wenn ein Patient oder eine Patientin eine Therapieform ablehnt, ist das zu respektieren“, so Windeler.
Unterstützung durch verständliche Informationen
Zur Unterstützung der Entscheidung umfasst der Vorbericht ein Paket von Gesundheitsinformationen, die einen Überblick über die Erkrankung geben sowie die Aspekte Beschwerden, Behandlung und Unterstützung der Betroffenen vertiefen.
Die vier Texte durchlaufen parallel zum Stellungnahmeverfahren eine Nutzertestung bei Betroffenen und Angehörigen. Auf dieser Basis werden die Texte anschließend überarbeitet. Die Gesundheitsinformationen sollen auch in der breiten Öffentlichkeit das Verständnis für Menschen mit ME/CFS fördern.