27.03.2020
Spinale Muskelatrophie (SMA): Neugeborenenscreening verspricht einen Nutzen
Eine frühestmögliche Diagnose und Therapie der infantilen SMA durch ein Screening der Neugeborenen führt zu einer besseren motorischen Entwicklung und zu weniger Dauerbeatmung und Todesfällen.
Im Auftrag des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) hat das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) untersucht, ob ein Test von Neugeborenen in Deutschland auf die spinale Muskelatrophie (SMA) in Kombination mit einer früheren Diagnose und Behandlung sinnvoll ist. Der Abschlussbericht des Instituts liegt nun vor.
Nach Auswertung der Studienlage sehen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des IQWiG einen Hinweis auf einen Nutzen des Neugeborenenscreenings im Vergleich zu keinem Screening: Je früher die Krankheit diagnostiziert wird und je früher die Ärztinnen und Ärzte somit die Therapie beginnen können, desto stärker können Kinder mit frühem Krankheitsbeginn (infantiler SMA) davon profitieren. Die Vorteile zeigen sich vor allem in einer besseren motorischen Entwicklung, etwa dem Erreichen motorischer Meilensteine wie „freies Sitzen“ und „Gehen“.
Genetisch bedingter Muskelschwund ist selten, aber drastisch
Die 5q-assoziierte spinale Muskelatrophie (SMA) ist eine erbliche Erkrankung, die zum fortschreitenden Absterben von motorischen Nervenzellen (Motoneuronen) im Rückenmark und damit zu Muskelschwund und -schwäche führt.
Mit etwa 1 Neuerkrankung pro 10 000 Säuglingen ist die infantile SMA sehr selten, aber in ihrer Ausprägung drastisch: Durch die Muskelschwäche werden die motorische Entwicklung, etwa „freies Sitzen“ und „Gehen“, sowie die Lungenfunktion beeinträchtigt bis unmöglich. Die zunehmenden Symptome führen bei der infantilen SMA unbehandelt letztlich zur Dauerbeatmung und zum Tod. Bei den ebenfalls seltenen Formen mit späterem Krankheitsbeginn ist der Verlauf meist milder und weniger vorhersagbar.
Blutprobe genügt – wirksame Therapie verfügbar
Ziel eines Neugeborenenscreenings auf 5q-assoziierte SMA ist die frühere Identifikation und die damit möglichst früh (im Idealfall präsymptomatisch) einsetzende Behandlung von betroffenen Kindern. Bisher gehört die SMA aber noch nicht zu den Erkrankungen, die im Rahmen des erweiterten Neugeborenenscreenings untersucht werden. Bei diesem in Deutschland gemäß der Kinder-Richtlinie des G-BA durchgeführten Screening wird in der 36. bis 72. Lebensstunde Venen- oder Fersenblut gewonnen, auf Filterpapierkarten getropft und auf das Vorliegen bestimmter Erkrankungen untersucht.
Für die medikamentöse Therapie der SMA steht in Deutschland der seit 2017 zugelassene Wirkstoff Nusinersen zur Verfügung, der die Wirkung fehlerhafter Gene ersetzt und über eine Punktion des Rückenmarkkanals (Lumbalkanalpunktion) verabreicht wird. Weitere neue Therapieansätze befinden sich derzeit in der Zulassungsprüfung.
Linked-Evidence-Ansatz genutzt
„Für diese Nutzenbewertung lag keine direkte Evidenz vor, d. h. es gab keine vergleichenden Interventionsstudien der Screeningkette. Deshalb mussten wir die Evidenz mit verschiedenen Puzzleteilen aus Therapie- und Diagnosestudien selbst zusammensetzen und den sogenannten Linked-Evidence-Ansatz verfolgen“, erläutert IQWiG-Projektleiterin Andrea Steinzen. „Für den Abschlussbericht hat der Hersteller auf unser Drängen hin noch ein entscheidendes Puzzleteil zur Bewertung der Therapievorverlegung bereitgestellt, das schließlich zu einem Hinweis auf einen Nutzen des Neugeborenenscreenings geführt hat.“
Im Detail werteten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des IQWiG für den Vergleich eines früh- versus spätsymptomatischen Therapiebeginns eine kleine randomisierte kontrollierte Studie (RCT) aus. Diese untersuchte eine medikamentöse Therapie im Vergleich zu einer Scheinbehandlung bei Kindern mit SMA. Im Hinblick auf den kombinierten Endpunkt „Zeit bis Tod oder dauerhafte Beatmung“ und auf den Endpunkt „Erreichen motorischer Meilensteine“ (etwa „freies Sitzen“ und „Gehen“) profitierten die betroffenen Kinder von einem frühsymptomatischen Therapiebeginn (d. h. maximal 12 Wochen nach Symptomeintritt).
Im Hinblick auf das „Erreichen motorischer Meilensteine“ zeigten die vom Hersteller im Stellungnahmeverfahren nachgereichten Studienergebnisse beim Vergleich eines prä- versus frühsymptomatischen Therapiebeginns einen dramatischen Effekt zugunsten des präsymptomatischen Therapiebeginns. Steinzen: „Je früher die Therapie also beginnen kann, desto positiver wird der Krankheitsverlauf beeinflusst.“
Wegen der jeweils kurzen Beobachtungsdauer von weniger als beziehungsweise genau einem Jahr in beiden Studien können keine Aussagen zu Langzeitergebnissen getroffen werden. In Bezug auf Nebenwirkungen lassen sich in beiden Studien keine Unterschiede zwischen einem frühsymptomatischen und einem spätsymptomatischen Therapiestart erkennen. Für andere Endpunkte fehlen verwertbare Daten zu diesem Vergleich.
Zur Bewertung der diagnostischen Güte der Testverfahren konnte das IQWiG-Projektteam auf vier Studien zurückgreifen, deren Ergebnisse darauf hindeuten, dass die untersuchten Testverfahren für ein Screening bei Neugeborenen auf 5q-assoziierte SMA geeignet sind.
Wichtige ethische Implikationen noch ungeklärt
Auch Neugeborene mit voraussichtlich spätem Krankheitsbeginn (d. h. einem Symptombeginn erst nach Jahren) werden durch das Neugeborenenscreening identifiziert. Allerdings erlauben die verfügbaren Daten zu Kindern mit infantiler SMA keine Schlüsse, ob durch das Screening identifizierte Kinder mit spätem Krankheitsbeginn ebenfalls bereits von einem präsymptomatischen Therapiebeginn profitieren würden. Denn die Therapiedaten zu Kindern mit infantiler SMA lassen sich nicht ohne Weiteres auf andere SMA-Formen übertragen. Daher sollte bei der Einführung eines Neugeborenenscreenings auf SMA auch ein adäquater Umgang mit diesen Kindern und ihren Familien mitgedacht werden, einschließlich der Erwägung einer selbstbestimmten Entscheidung über das (Nicht-)Wissen zum Vorliegen milde verlaufender SMA-Formen.
Zum Ablauf der Berichtserstellung
Die vorläufigen Ergebnisse, den Vorbericht, hatte das IQWiG im Oktober 2019 veröffentlicht und zur Diskussion gestellt. Nach Abschluss des Stellungnahmeverfahrens hat das Projektteam den Vorbericht überarbeitet und als Abschlussbericht im Februar an den Auftraggeber, den G-BA, versandt. Die eingereichten schriftlichen Stellungnahmen werden in einem eigenen Dokument zeitgleich mit dem Abschlussbericht publiziert.