2022: Diagnostik: Warum genau nicht genug ist
Verdacht, Diagnose – und was dann? Die Frage nach den Konsequenzen von Diagnostikist zentral, wird aber zu selten gestellt.
Viel zu oft fehlt der Blick auf die Folgen, die medizinische Untersuchungen nach sich ziehen: Zufallsbefunde, die auf eine potenzielle Erkrankung hinweisen, die aber nie lebensbedrohlich geworden wäre, beunruhigen Betroffene oder machen sogar Angst. Sie führen mitunter zur Stigmatisierung und stoßen weitere belastende Untersuchungen oder gar unnötige Therapien an, die den Betroffenen letztlich mehr schaden als nutzen.
Über die möglichen Konsequenzen beispielsweise eines „einfachen“ MRT-Scans (MRT = Magnet-Resonanz-Tomografie) wird kaum gesprochen, sodass die Untersuchten unvorbereitet mit bedrohlichen Zufallsbefunden konfrontiert werden. Und nicht zuletzt verbrauchen Überdiagnosen und Übertherapien wertvolle Ressourcen, die dann für existenzielle Fälle nicht verfügbar sind. Deshalb kann das abwartende Beobachten eine gute, oft sogar die bessere Option sein.
Die Probleme um die Diagnostik sind lange bekannt, aber ungelöst. Deshalb hat das IQWiG das Thema im Jahr 2022 erneut in den Mittelpunkt des Herbst-Symposiums gestellt, wie schon beim ersten Herbst-Symposium 2005.
„Evidenz lässt sich auch aus einer Evidenzkette schöpfen.“
Als Direktorin des Instituts für Medizinische Biometrie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf befasst sich Antonia Zapf intensiv mit der Evaluierung und Selektion diagnostischer Tests. Sie empfiehlt den Linked-Evidence-Ansatz (LEA). Hierbei werden unterschiedliche Evidenzformen aus verschiedenen Diagnosephasen wie in einer Kette miteinander verknüpft, um ein aussagekräftiges Gesamtbild für die Bewertung von diagnostischen Verfahren zu gewinnen. „Doch letztlich bestimmt das schwächste Glied die Stärke der Evidenzkette – deshalb sind hochwertige Studien unabdingbar.“
„Es ist ein Irrglaube, dass mehr Information bessere Entscheidungen produziert.“
Dieser Überzeugung ist Indra Spiecker gen. Döhmann, Professorin für Öffentliches Recht, Informations- und Umweltrecht sowie Verwaltungswissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Ohne Diagnostik könne eine Ärztin nicht behandeln. Die ärztliche Aufklärung sei das entscheidende Bindeglied zwischen Diagnostik und Behandlung: „Aber ist der Laborwert erstmal da, müssen wir ihn auch einbeziehen – trotz des Patientenrechts auf Nichtwissen.“ Das heißt: Schon vor der Diagnostik ist so aufzuklären, dass ein möglicher Befund mitgedacht wird. Dies sei besonders wichtig bei der Pränataldiagnostik.
„Wir brauchen eine neue Forschungskultur, bei der staatliche und herstellerfinanzierte Forschung miteinander verbunden sind.“
betont Gerhard Schillinger, Facharzt für Neurochirurgie und Leiter des Stabs Medizin im AOK-Bundesverband. Mit der Genomsequenzierung von Tumoren sei eine neue Stufe der Medizin erreicht. Seine Kritik: „Dank der rasanten Entwicklung basieren heute viele Therapieentscheidungen auf unreifer Evidenz – und gleichzeitig erreichen neue Behandlungsoptionen mit erwiesenem Nutzen die Betroffenen nicht wegen eines lückenhaften Wissenstransfers.“ Was fehle sei eine evidenzbasierte und patientenorientierte Forschungskultur mit einer wirksamen Verbindung von staatlicher und herstellerfinanzierter Forschung und der interdisziplinären Patientenversorgung.
„Einfache und schnelle Tests für komplexe Entscheidungen in der Pandemie“
Den Umgang mit Tests in der Corona-Pandemie zeichnete Jörg Meerpohl nach, Direktor des Instituts für Evidenz in der Medizin am Universitätsklinikum Freiburg und von Cochrane Deutschland. Die Antigen-Tests auf COVID-19 seien Meilensteine fürs Pandemie-Management gewesen, weil sie einfach anzuwenden, wenig invasiv und schnell wichtige Information über und für die Betroffenen lieferten. Ob und wie gut diese Tests tatsächlich zwischen Menschen mit und Menschen ohne COVID-19 unterscheiden könnten, habe man versucht mit Studien zur diagnostischen Test-Genauigkeit zu überprüfen. Diese hätten jedoch Schwächen gehabt und deshalb nur spärliche Evidenz geliefert: „Überdies werden solche Studien beeinflusst durch Prävalenz, neue Virusvarianten, eine schwankende Viruslast, die Population und denTest-Zeitpunkt.“
„Die Zukunft der bildgebenden Diagnostik liegt im Zusammenspiel von künstlicher und menschlicher Intelligenz.“
So sagt es Daniel Truhn voraus, der an der Uniklinik Aachen als Leitender Wissenschaftler für diagnostische und interventionelle Radiologie tätig ist. Er leitet eine Arbeitsgruppe für Künstliche Intelligenz (KI) und ihre Anwendung auf medizinische Daten. In seinem Beitrag zeigte er Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen der Funktionsweise des menschlichen Gehirns und den trainierbaren Computerprogrammen auf, die heute als künstliche Intelligenz bezeichnet werden. Beide haben Stärken und Schwächen. Am Beispiel von Röntgenaufnahmen des Knies schilderte er, wie die Algorithmen der KI trainiert werden müssen, damit am Ende zuverlässige Befunde erstellt werden können. Sein Highlight am Schluss: In einer gerade publizierten Studie zeigte er, dass Radiologen mit der Unterstützung von KI wesentlich bessere Vorhersagen über die Entwicklung eines gravierenden Kniegelenksverschleißes über die nächsten acht Jahre machen konnten als ohne diese Hilfe.
„Diagnostik-Studien müssen zentrale Fragen beantworten.“
Welche Studien das sind, erläuterte Sandra Janatzek, Teamleiterin für Methodik im Bereich EbM des Medizinischen Dienstes Bund. Randomisierte kontrollierte Studien (RCTs) mit patientenrelevanten Endpunkten im Strategiedesign blieben der Goldstandard, doch stünden auch andere Designs zur Verfügung, bespielweise Diskordanz-Designs. In speziellen (seltenen) Situationen genügten aber auch Studien zur Testgüte mit reduzierten Vergleichen – je nach Fragestellung und Rolle des Tests im diagnostischen Pfad: „Letztlich sind stets zentrale Fragen zu beantworten: Erkennt die Methode zuverlässiger als bisher Kranke und Gesunde? Findet das neue Verfahren die Patientinnen und Patienten, die mehr oder weniger profitieren? Und führt die neue Diagnostik letztlich zu besseren Therapieentscheidungen?“
„Alzheimer-Frühdiagnostik: Dilemma der Abwägung“
Die verfügbaren Verfahren zur Frühdiagnostik lieferten keine verlässlichen Prognosen für das persönliche Erkrankungsrisiko und es gebe derzeit noch keine Evidenz für wirksame Präventions- und Therapiemöglichkeiten. Mit diesen Worten brachte Elmar Gräßel, Leiter der Medizinischen Versorgungsforschung, der Medizinischen Psychologie und Soziologie an der Psychiatrischen Universitätsklinik Erlangen, das Dilemma der Alzheimer-Diagnostik auf den Punkt. Die Nachteile von Frühdiagnostik wie vorzeitiger Autonomieverlust oder gesellschaftliche und/oder finanzielle Ausgrenzung ließen sich bislang nicht aufwiegen durch den Vorteil, auf Basis informierter Entscheidung eine gute Vorsorge treffen zu können.
„Man kann Menschen mehr zutrauen, als man denkt.“
Davon ist Tanja Krones überzeugt. Sie referierte über den Wert von Informationen in der Diagnostik. Als Ärztin und Professorin für Ethik in der Medizin an der Universität Zürich liegen ihre Schwerpunkte in der klinischen Ethik, in Evidenzbasierte Medizin ( EbM), Health Technology Assessment (HTA) und Shared Decision Making. Die Frage, ob Diagnosen genau sind, beantwortete sie so: „Diagnosen sind gemacht, nicht gefunden. Diagnose ist Wahrscheinlichkeit und nicht Wahrheit!“ Die Sicht von Patientinnen und Patienten auf ihre Symptome, Beschwerden und Krankheit ernst zu nehmen, sei auch in diesem Kontext bedeutend und die Grundlage für Patientenautonomie.
„Hauptsache gesund? Über Moneten und Missionen“
fragte Jürgen Windeler, Gastgeber des Herbst-Symposiums, abschließend rhetorisch. Sobald zur Prävention gegen eine Krankheit aufgerufen werde, nehme die Diagnostik geradezu epidemische Formen an. Genau davor warnte die Initiative Choosing Wisely bereits 2012 und gab hunderte von konkreten Do-Not-Empfehlungen für anlasslose Diagnostik. „Bei uns im deutschen System verpuffte diese Warnung – 75 Prozent aller individuellen Gesundheitsleistungen (IGeL) sind Untersuchungen ohne Anlass.“ Das Problem: Niemand beschwert sich über falsch-negative Befunde oder falsch-positive Ergebnisse. „Die Kritik an Überdiagnostik und Übertherapie gilt bei uns als rein akademisch, ohne Bezug zur medizinischen Wirklichkeit.“ Alle sorgten sich vor abwartendem Verhalten, das womöglich zu einem schweren Verlauf führe – „deshalb wird lieber aktiv vorgesorgt“. Windelers Forderung: „Politik muss evidenzbasiert entscheiden und Forschung zu den Folgen von Diagnostik fordern und fördern – weil GENAU eben nicht GENUG ist!“ Choosing Wisely bedeute den Mut zu haben, etwas nicht zu tun.
Der Vortrag von Indra Spiecker gen. Döhmann: „Rechtliche Aspekte in der Anwendung diagnostischer Verfahren“ ist nicht online. Auf Anfrage kann dieser zugesandt werden.