2023: Herausforderung Seltene Erkrankungen
Über Diagnostik, Versorgung, Forschung und Kosten: Was benötigen Betroffene? Was fehlt? Und was ist machbar?
Selten ist nicht so selten. Wenn nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen davon betroffen sind, gilt eine Erkrankung in der EU als selten. Doch allein in Deutschland leben etwa vier Millionen Menschen mit einer seltenen Erkrankung; in der gesamten EU geht man von ca. 30 Millionen Betroffenen aus. Sie alle haben denselben Anspruch auf Qualität, Unbedenklichkeit und Wirksamkeit von Arzneimitteln und anderen Therapien wie Menschen mit anderen Krankheiten.
Das Generieren von wissenschaftlicher Evidenz zu Diagnostik und Therapie bei seltenen Erkrankungen ist mit besonderen Herausforderungen verbunden. Welche das sind und wie sie sich überwinden lassen, zeigten Expertinnen und Experten aus verschiedenen Bereichen des Gesundheitssystems bei unserem diesjährigen Herbst-Symposium.
Am 24. und 25. November 2023 diskutierten in Köln knapp 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus Selbsthilfe, Gesundheitswesen, Forschungseinrichtungen und Industrie, was Patientinnen und Patienten mit seltenen Erkrankungen benötigen und was bisher für ihre gute Versorgung fehlt. Weitere 132 Interessierte nahmen online am 18. Herbst-Symposium des IQWiG teil.
Menschen mit seltenen Erkrankungen dürfen nicht aus dem Blick geraten
Häufiges ist häufig und Seltenes ist selten. An diese lapidare Antwort des Oberarztes auf seine Frage, ob der Patient eventuell an einer bestimmten seltenen Erkrankung leidet, erinnert sich IQWiG-Leiter Thomas Kaiser noch heute, wenn er an seine Zeit als junger Arzt im Praktikum zurückdenkt. „Das Paradigma spiegelt zwar Pragmatik im ärztlichen Alltag wider, ist aber unzureichend auf dem Weg zur richtigen Diagnose – und darf sich nicht weiter im ärztlichen Bewusstsein manifestieren“, mahnte Thomas Kaiser zum Auftakt des Symposiums – „damit Menschen mit seltenen Erkrankungen nicht aus dem Blick geraten.“ Der Schlüssel dafür sei frühzeitige und robuste Evidenz zu Diagnostik und Therapie von seltenen Erkrankungen. Der bisher fiktive Zusatznutzen, der den Wirkstoffen für die Behandlung seltener Erkrankungen (Orphan Drugs) mit der Zulassung rein formal zugesprochen wird, bewirke aber das Gegenteil: „Denn bei 70 Prozent der Orphan Drugs bescheinigt der ,nicht quantifizierbare Zusatznutzen‘ nur eins: Wir wissen nicht, ob diese Wirkstoffe besser, gleich gut oder gar schlechter sind als das, was bisher an Behandlungsoptionen verfügbar ist.“
Wie sich das Bewusstsein für seltene Erkrankungen und wie sich die Evidenz für gute Behandlungsentscheidungen verbessern lassen – darum ging es dem IQWiG beim Herbst-Symposium 2023 in sieben Vorträgen und einem Streitgespräch über die richtige Kostenbalance bei Arzneimitteln.
Die Odyssee bis zur richtigen Diagnose
Suchen, Kämpfen, Hoffen: Das sind die Charakteristika im Leben von Betroffenen mit seltenen Erkrankungen. Mirjam Mann, Christine Mundlos und Michael Scholz von der „Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen“ (kurz: ACHSE) führten damit ins zentrale Thema ein. Als Vater eines schwer erkrankten Kindes schilderte Michael Scholz die Odyssee bis zur richtigen Diagnose, die das Leben schlagartig und fundamental veränderte. Obwohl beruflich in der Sozialversicherung tätig, sah er sich schier undurchschaubaren Anforderungen ausgesetzt: Wo muss wann welcher Antrag durch wen gestellt werden – und mit welchen Fachbegriffen –, um die richtigen Hilfsmittel für den Alltag tatsächlich zu bekommen?
Die drei zentralen Forderungen der ACHSE sind deshalb:
- Diagnose beschleunigen! Die Technik und vernetzte Strukturen sind da, aber die Planungsperspektive und das Bewusstsein dafür fehlen noch.
- Evidenz verbessern! Fachpersonal fehlt und Krankheitsregister als wichtige Grundlage für mehr Wissen sind unkoordiniert und unterfinanziert.
- Nationale Vernetzung ausbauen! Krankheitsspezifische Ambulanzen müssen auch für die Zukunft gesichert werden und die verlässliche Vernetzung von Patientenorganisationen mit Ärzteschaft und Kliniken ist ausbaufähig. Hoffnung machen aber Projekte auf Bundes- und EU-Ebene, die ab 2024 anlaufen.
Endlich hört mir mal jemand zu!
Anders als menschliches Personal im medizinischen Alltag hat Künstliche Intelligenz (KI) keinen Zeitdruck: Am Bildschirm kann sich KI Zeit nehmen für eine ausführliche Anamnese, um mit 80 Fragen mehr von Patientinnen und Patienten über ihre seltene Erkrankung zu erfahren. Was KI zur Diagnostik von seltenen Erkrankungen beitragen kann, zeigten die praktischen Beispiele von Martin Hirsch, der sich an der Universität Marburg mit Schnittstellen von Biomedizin und Informationstechnik befasst. „Aber nicht mit dem Denken aufhören, wenn man mit Künstlicher Intelligenz arbeitet!“, appellierte er, weil es um Wahrscheinlichkeitsmodelle und Korrelationen geht. Dafür fehlt es noch oft an Datensätzen, um die digitalen Netzwerke zu trainieren und belastbare Evidenz zu generieren. In Zukunft könnten digitale Symptom-Checker aber als kleine „KI-Labore“ zu Hause kontinuierlich wichtige Daten gewinnen und so umfassendere Informationen für die Versorgung liefern – für Erkrankte wie für Therapeutinnen und Therapeuten.
Bedürfnisse sind unendlich, aber Ressourcen sind begrenzt
Gesundheitsökonomen empfehlen die Kosten-Nutzen-Analyse als wirksames Instrument, um mit diesem Dilemma umzugehen. Julian Witte, Spezialist für ökonomische Modellierung und datenbasiertes Storytelling, warf einen Blick auf die Kostenstruktur im Arzneimittelmarkt: Patentgestützte Arzneimittel und Orphan Drugs seien hier die primären Kostentreiber – mit steigender Tendenz, weil es zukünftig mehr Produkte und damit mehr Verordnungen geben werde. Die Privilegien von Orphan Drugs seien mit dem Absenken der willkürlichen Umsatzschwelle auf 30 Mio. € zwar geschmälert, doch bleibe die Bezahlbarkeit langfristig eine Herausforderung. „Wir geben jedes Jahr mehr Geld aus als im Vorjahr – und was bekommen wir dafür?“ Die Kosten-Nutzen-Analyse auf Basis von Real-World-Daten könne Evidenz liefern zu dieser Frage und für kosteneffektive Therapieentscheidungen. Deutschland sei bisher eines der wenigen Länder in Europa, das nicht auf solche ergänzenden Instrumente zurückgreife.
Darf ich das verordnen?
Ob die aktuell hohen Ausgaben für Orphan Drugs zu rechtfertigen und perspektivisch zu leisten sind, diskutierten Martin Hug vom Uniklinikum Freiburg aus der Sicht des Apothekers (und gleichzeitig Vater eines Kindes mit einer seltenen Erkrankung) sowie Wolf-Dieter Ludwig von der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft im Streitgespräch.
Die Umsätze von Originalpräparaten hätten sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt, die von Orphan Drugs sogar verdreifacht, erläuterte Hug einleitend. Gleichzeitig gebe es drastische Preissteigerungen wie z.B. bei der Gentherapie Onasemnogen Abeparvovec (Zolgensma) gegen spinale Muskelatrophie: Der Herstellerabgabepreis sei in den vergangenen drei Jahren zwar gesunken, aber mit 1,65 Millionen € pro Einmalspritze immer noch sehr hoch (2020: 2,25 Millionen €). Arzneimittelentwicklung lohne sich für ein Unternehmen aber nur, wenn der Ertrag am Ende größer sei als die Kosten. Bis der operative Gewinn die hohen Kosten für Herstellung, Marketing sowie Forschung & Entwicklung übersteige, dauere es zuweilen viele Jahre, wie Hug anhand eines Beispiels erläuterte.
Wolf-Dieter Ludwig kritisierte die hohen Preise, die die Hersteller für bestimmte Arzneimittel aufrufen. Besonders durch die cytogenetischen Marker in der Onkologie breite sich dabei die Tendenz zur „Filetierung“ von Patientengruppen und Indikationen aus – um mit dem Orphan-Drugs-Status dann aufgrund der damit verbundenen Privilegien höhere Gewinne zu erzielen. Martin Hug widersprach dem nicht. Er sieht aber auch einen hohen medizinischen Bedarf, insbesondere bei seltenen Erkrankungen sei die Krankheitslast sehr hoch.
In einem Punkt waren sich die Kontrahenten einig: Wir müssen dringend klären, wie wir verlässliche Evidenz regelhaft auch zu Orphan Drugs generieren, idealerweise parallel zur Zulassung. Thomas Kaiser bilanzierte: „Auch synthetische Kontrollarme muss man nicht verteufeln, aber in welchen Fällen kann ich mich darauf verlassen – oder eben auch nicht?“ Das sei ebenso zu klären wie die Frage, warum eigentlich nicht lieber direkt vergleichende randomisiert kontrollierte Studien (RCT) durchgeführt werden? „Dafür sind viel weniger Studienteilnehmer nötig als für non-RCT“, betonte Kaiser.
Mit der bedingten Zulassung sind Auflagen verbunden
Fragen zur Zulassung von Arzneimitteln im Bereich seltener Erkrankungen beantwortete Martina Schüßler-Lenz vom Paul Ehrlich Institut aus der regulatorischen Perspektive und mit dem besonderen Blick auf Gentherapeutika wie Zolgensma. Diese sogenannten Arzneimittel für neuartige Therapien (Advanced Therapy Medicinal Products = ATMPs) böten neue, an der genetischen Grundursache angreifende Behandlungsmöglichkeiten für Patienten mit seltenen Erkrankungen. Dabei erfolge die klinische Entwicklung von in der EU zugelassenen ATMPs vorwiegend in den USA und folge internationalen und EU-Leitlinien.
„Der Wirkmechanismus von Gentherapeutika und die kausale Zuordnung des Therapieeffektes sind Eigenschaften, die positive Nutzen-Risiko-Bewertungen auf Basis von einarmigen klinischen Prüfungen ermöglichen“, sagte Schüler-Lenz. Bei einer bedingten Zulassung – einer für ATMPs häufigen Zulassungsform – seien jedoch regelhaft weitere Datenerhebungen auch nach der Zulassung notwendig, mit denen mehr Informationen zu Nebenwirkungen, teilweise aber auch zu den Wirkungen der neuen Arzneimittel gewonnen werden sollen. Erst nach Vorliegen dieser weiteren Daten werde eine „normale“ Zulassung erteilt.
„Hersteller müssen daher schon vor der Zulassung von Orphan Drugs überlegen, wie sie die Evidenz zur Erfüllung eventueller Zulassungsauflagen generieren“, betonte die Zulassungsexpertin – „denn mit der bedingten Zulassung sind konkrete Vorgaben verbunden.“ In den nächsten fünf Jahren werde man dafür noch keine Plattformstudien sehen, so ihre Prognose: „Denn auch die Registerlandschaft ist zurzeit noch zu schlecht vernetzt.“ Ein EU-weiter Zugang der Patienten zu ATMPs und EU-weite Register guter Qualität wären aus ihrer Sicht aber sehr geeignet, um Erkenntnisse für die Versorgung zu schaffen und Forschung zu unterstützen.
Aus der anschließenden Diskussion wurde dann deutlich, dass zwischen den Zulassungsbehörden und den HTA-Institutionen wie dem IQWiG an wichtigen Stellen grundlegende methodische Übereinstimmung besteht. Auch für die Zulassung von Orphan Drugs gibt es hier eine Präferenz für RCTs. „Da aber für die Nutzenbewertung immer der Vergleich mit dem aktuellen Standard relevant ist, bleibt trotz ausreichender Daten für die Zulassung oft eine relevante Versorgungsfrage offen: Welche Therapie ist besser – die neue oder das, was schon da ist?“, betonte Thomas Kaiser.
Nicht nur Prävalenz ist das Problem, sondern auch die Inzidenz!
„Wenn keine neuen Personen in die Studie aufgenommen werden, können wir speziell entwickelte Methoden für diese Studie nicht wirksam anwenden,“ sagte Ralf-Dieter Hilgers, der als Experte für Biometrie an der RWTH Aachen zu integriertem Design und der Analyse von kleinen Populationen in klinischen Studien forscht und methodische Lösungsansätze zur Generierung belastbarer(er) Evidenz bei seltenen Erkrankungen lieferte.
„Ohne Kontrollarme wird die Wirkung für die aktive Substanz künstlich vorausgesetzt, doch wenn der Nachweis fehlt, wird auf dieser Basis eher falsch als richtig entschieden.“ Hilgers Fazit: Randomisierung ist auch in Studien mit seltenen Erkrankungen mit kleinen Fallzahlen möglich, sie solle aber möglichst früh erfolgen. Das jeweilige Randomisierungmodell sei entscheidend. In der Planungsphase zur Studie sei zu klären, wie sich Verzerrungen ( Bias) am besten vermeiden lassen. Schon bei der Datenanalyse sei zu klären, wie groß der Bias tatsächlich ist, bevor sich die Ergebnisse interpretieren lassen. Auf Nachfrage ergänzte Hilgers, dass die vielfältig publizierten Methoden leider sowohl bei den Studienplanern als auch bei den Zulassungsbehörden kaum angewendet würden – ein Umstand, der dringend geändert werden sollte, da sonst die Generierung besserer Evidenz für seltene Erkrankungen behindert werde.
Daten aus der Versorgung nutzen, KI-unterstützt.
Wie sich Patientenregister und natural-history-Studien zum Generieren von Evidenz bei seltenen Erkrankungen einsetzen lassen, zeigte Thomas Klopstock von der LMU in München, wo er sich mit translationalen Forschungsansätzen bei seltenen neurodegenerativen Erkrankungen befasst. „Sogar für mitochondriale Erkrankungen mit großerVariabilität lassen sich zahlreiche Forschungsziele mit Registern klären“: Definieren des phäno- und genotypischen Spektrums sowie Erfassen der Krankheitsprogression, Evaluieren von geeigneten klinischen und patienten-berichteten Endpunkten, Identifizieren der geeigneten Patienten-Population für klinische Studien und Etablieren einer externen Kontrollgruppe für einarmige klinische Studien. Sein Plädoyer: „Ich denke, wir müssen noch mehr Daten aus der Versorgung für die Forschung nutzen, im Sinne einer wissensgenerierenden Forschung. Und letztlich werden wir auch verstärkt auf KI-Unterstützung zurückgreifen müssen.“ Bei tausenden von Patienten und tausenden von Parametern brauche man neue Auswertungsmethoden.
RCT sind möglich, auch in Registern.
Was Patientenregister auf den Weg zu (randomisiert) kontrollierten Studien beitragen können, stellte Lutz Nährlich vor, der an der Universität Gießen als Wissenschaftler und Arzt für Kinder- und Jugendmedizin tätig ist. „Bei seltenen Erkrankungen müssen wir global denken“, forderte er und fragte: „Warum schaffen wir die Evidenz für Zulassungsentscheidungen und Nutzenbewertung und die Pharmakovigilanz zur Langzeitbeobachtung nicht gemeinsam vor der Zulassung?“ Zentrale Register für alle Beteiligten wären eine gute Lösung – und zeichnen sich bereits ab in der European medicines agencies network strategy to 2025. Die Möglichkeiten von Registern können sich allerdings nur voll entfalten, wenn die Datensätze abgestimmt und die Beteiligten vernetzt sind: Behörden, Hersteller, Betreiber und Studienzentren. Nährlich: „Dann lassen sich zukünftig auch Zulassungsstudien auf solchen Plattformen durchführen.“
„Erst durch den gestern und heute aufgezeigten Weg zur Evidenz – vom realen Einzelfall bis zur Studienmethodik – wurde meines Erachtens begreifbar, für wen und warum wir das alles machen!“, resümierte Thomas Kaiser zum Abschluss des zweitägigen Symposiums: „Wir sollten unser 2-Phasen-Modell ,vor der Zulassung / nach der Zulassung‘ erweitern: Es gibt den wichtigen Zeitraum parallel zum Zulassungsverfahren, also während die Zulassungsstudien von der Zulassungsbehörde bewertet werden. Diesen Zeitraum müssen wir nutzen, um gute Studien vor dem Marktzugang auf den Weg zu bringen. Dann schaffen wir es, dass zeitnah Evidenz für gute und angemessene Versorgungsentscheidungen zur Verfügung steht, ohne die Zulassung selber zu verzögern.“
Sein Schlusswort: „Wenn wir nur bei zwei oder drei seltenen Erkrankungen durch dieses Symposium bessere Evidenz hinbekommen, haben wir viel erreicht.“