2023: Wie bewertet man die Qualität von KNBs?
Über die Qualität und die Einsatzmöglichkeiten von Kosten-Nutzen-Bewertungen
In Kosten-Nutzen-Bewertungen (KNBs) wird der gesundheitliche Nutzen medizinischer Maßnahmen den Kosten gegenübergestellt. Grundlage für KNBs sind in der Regel entscheidungsanalytische Modellierungen. Sie sollen zum Beispiel unter Inkaufnahme einer höheren Unsicherheit ermöglichen, einen längeren Zeithorizont zu betrachten als in den klinischen Studien, die den Nutzenbewertungen zugrunde liegen. Im Kontext des AMNOG-Verfahrens können KNBs qua Sozialgesetzbuch V beispielsweise zur Orientierung bei der Preisfindung neuer Arzneimittel eingesetzt werden, wenn die frühe Nutzenbewertung abgeschlossen ist und die Preisverhandlungen zwischen GKV-Spitzenverband und pharmazeutischem Unternehmen gescheitert sind.
Beim „IQWiG im Dialog“ hat das IQWiG am 16. Juni 2023 in Köln mit mehr als 120 Expertinnen und Experten von Universitäten, Forschungseinrichtungen, Industrie und HTA-Institutionen diskutiert, welche Kriterien für die Bewertung der Aussagekraft solcher gesundheitsökonomischen Modelle bedeutsam sind und wie KNBs auch in Deutschland eine größere Rolle spielen könnten.
„Seit dem Start des AMNOG-Verfahrens im Jahr 2011 haben weder die Krankenkassen noch die Industrie eine Kosten-Nutzen-Bewertung initiiert, sodass der G-BA das IQWiG bis heute auch noch nicht mit einer KNB nach §35b SGB V beauftragt hat“, berichtete Anja Schwalm, Leiterin des IQWiG-Bereichs Gesundheitsökonomie, zum Auftakt. Dies könne auch dem bisher sehr komplexen Verfahren geschuldet sein, das sich über mehrere Jahre hingezogen hätte – „keine attraktive Option bei Patentlaufzeiten von zehn Jahren“. Das Institut habe deshalb seine methodischen Grundlagen für Kosten-Nutzen-Bewertungen überarbeitet, so Schwalm: „Unser neues Konzept ist pragmatischer.“ Unter anderem habe die bisherige Methodik die Berücksichtigung aller Therapieoptionen im Indikationsgebiet gefordert, jetzt könnten auch weniger Komparatoren herangezogen werden. Zudem leite das IQWiG keine Preisempfehlung mehr ab. Stattdessen werde künftig das inkrementelle, also schrittweise berechnete, Kosten-Nutzen-Verhältnis in Relation zur Vergleichstherapie angegeben.
„Die Einführung neuer hochpreisiger Therapieformen verstärkt den Bedarf an frühzeitig verfügbaren, methodisch einheitlichen und vergleichbaren Kosten-Nutzen-Bewertungen als ergänzendes Element einer rationalen und faktenbasierten Preisbildung“, betonte Anja Tebinka-Olbrich, Leiterin des Referats AMNOG-Erstattungsbetragsverhandlungen beim GKV-Spitzenverband. Pharmazeutische Unternehmen würden schon jetzt vereinzelt KNB-Aspekte in das AMNOG-Verfahren einbringen: „Die Firmen wählen dann Einzelaspekte aus ihnen zugänglichen Datenquellen, um ihre Position zu stützen.“ Das methodische Vorgehen sei jedoch zweifelhaft und in den Verhandlungen nicht nachprüfbar. Die nun vom IQWiG vorgelegte und auf die wichtigen Fragen konzentrierte pragmatische KNB-Methodik könne hier Abhilfe schaffen – als Ergänzung der frühen Nutzenbewertung im AMNOG-Verfahren und womöglich im Rahmen einer neuen Aufgabe für das IQWiG.
Bei gesundheitsökonomischen Modellen gebe es immer Wissenslücken, die mit plausiblen Annahmen geschlossen werden müssten, sagte Björn Stollenwerk, Director Health Economics bei Amgen (Europe) GmbH. Dabei spielten Surrogatparameter, mathematische Annahmen und Expertenmeinungen eine besondere Rolle. Seine Schlussfolgerung: „Es besteht die Gefahr, dass gesundheitsökonomische Modelle den Wert innovativer Arzneimittel systematisch unterschätzen, und Patientinnen und Patienten der Zugang zu Innovationen verwehrt bleibt.“
Das Robert Koch-Institut (RKI) verwende seit 2016 gesundheitsökonomische Evaluationen für die Gewinnung zusätzlicher Evidenz bei der Entwicklung von Impfempfehlungen, berichtete Ole Wichmann, Leiter der Infektionsepidemiologie beim RKI. „Natürlich beruhen unsere Empfehlungen vor allem auf einer epidemiologisch-medizinischen Nutzen-Risiko-Bewertung.“ Damit eine Impfstrategie nicht nur effektiv, sondern möglichst auch effizient sei, führe das RKI aber auch gesundheitsökonomische Evaluationen durch. Als Beispiele nannte Wichmann durchgeführte Modellierungen für die Festlegung des Impfalters bei der Herpes-zoster-Impfung und auch im Vorfeld der Empfehlung für die HPV-Impfung bei Jungen. Am Beispiel der HPV-Impfung verdeutlichte der RKI-Experte, warum die KNB von Impfstoffen besonders herausfordernd sei: „Etwaige Kosteneinsparungen für die Krankenkassen zeigen sich hier erst nach 30 oder 40 Jahren.“ Auch Herdeneffekte oder ein teilweise nachlassender Impfschutz im Laufe der Zeit seien kaum zuverlässig zu modellieren.
Uwe Siebert, Leiter des Instituts für Public Health, Medical Decision Making und HTA an der privaten Universität für Gesundheitswissenschaften und -technologie in Hall in Tirol, erläuterte dezidiert, wie er und sein Team entscheidungsanalytische Modellierungen für die Bewertung von Gesundheitstechnologien erstellen: „Dabei sind natürlich die Key Principles von HTA zu berücksichtigen.“ Die zu bewertenden Domänen beinhalteten unter anderem Nutzen, Schaden, Kosten, sowie ethische, soziale, patientenbezogene und rechtliche Aspekte. Evidenz zu diesen Domänen stammten unter anderem aus randomisierten kontrollierten klinischen Studien, Beobachtungsstudien, Kostenkatalogen, deskriptiven Datenbanken und anderen Quellen. „Für die Entscheidungsunterstützung ist es entscheidend, diese Evidenzelemente systematisch und transparent über einen Zeithorizont zusammenzuführen, der ausreichend lang ist, um die relevanten Ereignisse und Gesundheitszustände zu erfassen.“ Für die Beurteilung der Kosteneffektivität spielten insbesondere vier Domänen eine Rolle, so Siebert: Die Abwägung zwischen Nutzen und Schaden könne entweder mittels inkrementellen Schaden-Nutzenverhältnissen dargestellt werden oder mithilfe von Nutzwerten (etwa über qualitätsadjustierte Lebensjahre, QALYs) integriert werden. Die Abwägung zwischen Zusatznutzen und Zusatzkosten (Effizienz) erfolge mittels inkrementeller Kosteneffektivitätsverhältnisse. Neuere Modellierungen beleuchten ferner die quantitative und explizite Abwägung zwischen Effizienz und (Un-)Gleichheit (Nettonutzenverteilung).
GRADE (Grading of Recommendations, Assessment, Development and Evaluation) ist eine international viel beachtete Methode, um die Qualität von Evidenz und die Stärke von Empfehlungen von Leitlinien einzustufen. Holger Schünemann, Leiter des GRADE-Centres an der McMaster University, Hamilton, Canada, präsentierte in Köln GRADE’s konzeptionellen Ansatz zur Bewertung der Vertrauenswürdigkeit von Aussagen aus Modellierungsstudien. GRADE schlage dabei folgende, hierarchisch zu verstehende, Vorgehensweise vor: Als erste Präferenz die De-novo-Entwicklung eines Modells, das für die interessierende Situation spezifisch ist, sollte das nicht möglich sein, das Ausweichen auf ein vorhandenes Modell, dessen Ergebnisse die höchste Gewissheit für die interessierende Situation liefern (entweder „von der Stange“ oder nach Anpassung) und an dritter Stelle die Aussagen von verschiedenen Modellen geeignet zu synthetisieren. Aber auch wenn man diesen Ansatz bestmöglich umsetze, sei modellierte Evidenz doch häufig mit großer Unsicherheit („very low certainty“) behaftet. Die daraus resultierenden Empfehlungen seien dann nur mit größter Vorsicht zu verwenden.
„Modellierungen dürfen deshalb nur dann für Entscheidungen im Gesundheitswesen herangezogen werden, wenn sie erstklassig gemacht und dementsprechend ausreichend verlässlich sind “, betonte Thomas Kaiser, Leiter des IQWiG, in seinem Abschlussstatement. Ziel müsse die bestmögliche Qualität solcher Modelle sein – auch, wenn dies nicht zum Nulltarif zu haben sei. Darauf habe die Versichertengemeinschaft ein Anrecht, so Kaiser.