3. Was sind die besonderen Herausforderungen bei der Überprüfung nicht medikamentöser Verfahren?
Zahlreiche Faktoren können die Bewertung von Nutzen und Schaden nicht medikamentöser Verfahren zu einer besonderen Herausforderung machen:
Die zu überprüfenden Verfahren sind sehr unterschiedlich.
Die Bandbreite der nicht medikamentösen Behandlungsformen (siehe Abschnitt 1) ist enorm. Es gibt eine Vielzahl möglicher Wirkmechanismen, die gegen unterschiedlichste medizinische Probleme helfen sollen. Das Spektrum reicht von sehr einfachen bis zu hochkomplexen Verfahren und Behandlungsmethoden.
Die Systemische Therapie beispielsweise wird als Psychotherapie-Methode bei einer Vielzahl von Krankheiten eingesetzt, etwa Angst- und Zwangsstörungen, Essstörungen, Depression oder auch körperlichen Erkrankungen. Sie beruht auf zahlreichen theoretischen Konzepten und setzt auf ebenso vielfältige Techniken in der Therapie. In der Praxis (und auch in Studien) werden oft systemische und nicht systemische Behandlungstechniken kombiniert.
Trotz der Komplexität und Vielgestaltigkeit der Therapie ist eine Bewertung von Nutzen und Schaden dieser Behandlungsform durchaus möglich. Vor einer Bewertung durch das IQWiG musste allerdings zunächst geklärt werden, was genau zu einer Systemischen Therapie gehört und was nicht, und welche Kriterien geeignet sind, Nutzen und Schaden im jeweiligen Setting zu ermitteln. Von 2014 bis 2017 hat das IQWiG die Systemische Therapie im Auftrag des G-BA bewertet und über vierzig Studien ausgewertet (siehe Projekt N14-02: Systemische Therapie bei Erwachsenen als Psychotherapieverfahren). Da sich zumindest Hinweise auf Nutzen bei Angst- und Zwangsstörungen sowie bei Schizophrenie zeigten, wurde diese Psychotherapie-Methode 2019 für die allgemeine Behandlung eingeführt.
Neben der erschwerten Übertragbarkeit von Ergebnissen zwischen Varianten eines Verfahrens oder Produkts spielen bei anderen Methoden auch zeitliche oder auch menschliche Faktoren eine Rolle. So stellte sich beispielsweise für die Bewertung der Computertomografie mit niedriger Strahlenbelastung (Low-Dose-CT) für das Screening auf Lungenkrebs die Frage, inwieweit ältere Studien noch zu berücksichtigen sind, wenn neue CT-Geräte eine besser Bildauflösung bzw. -auswertung ermöglichen (siehe Pressemitteilung). Beeinflusst wird das Auswerten und Beurteilen der Bilder auch durch die Erfahrung des ärztlichen Personals, ein Faktor, den es bei der Bewertung von Nutzen und Schaden nicht medikamentöser Verfahren immer wieder auch in Bereichen wie der Chirurgie, der Psychotherapie oder der Zahnmedizin zu berücksichtigen gilt.
Die Beispiele unterstreichen, dass nicht nur die enorme Bandbreite der nicht medikamentösen Verfahren eine Bewertung von Nutzen und Schaden zu einer Herausforderung macht. Auch die Unterschiede und Variationen innerhalb einer Gruppe von Methoden erschweren deren Bewertung.
Die Überprüfung von Untersuchungs- und Behandlungsmethoden ist komplex, weil Verfahren aus mehreren Komponenten bestehen.
Nicht medikamentöse Verfahren und Behandlungsmethoden setzen sich häufig aus mehreren Komponenten zusammen, deren Zusammenwirken einen patientenrelevanten Nutzen ergeben soll. Für die Bewertung von Nutzen und Schaden einer Methode kann es notwendig sein, alle diese Komponenten in die Bewertung einzubeziehen.
So stellte sich dem IQWiG die Frage, wie gut die Positronenemissionstomografie (PET) (alleine oder in Kombination mit einer Computertomografie, CT) Patienten mit Darmkrebs helfen kann (siehe Pressemitteilung). Sie wird eingesetzt, um wiederkehrende Tumore (Rezidive) aufzufinden und Informationen zu liefern, ob es sich um eine gutartige oder eine bösartige Geschwulst handelt. Wenn die PET/CT Rezidive findet, kann dies einerseits bedeuten, dass weitere Operationen notwendig sind, es kann aber auch bedeuten, dass man statt der kurativen eine palliative Behandlung beginnen sollte.
Im Fall einer kurativen Behandlung stellt sich die Frage, ob Test und anschließende Therapie zusammen tatsächlich die Chance erhöhen, länger zu leben als ohne diese Maßnahmen: Welchen Nutzen hat eine PET/CT, wenn sie es zwar ermöglicht, Geschwulste besser zu finden und zu charakterisieren, dies aber gar nicht dazu führt, dass Patientinnen oder Patienten länger leben, sondern nur, dass sie häufiger operiert werden? Der Gesamtnutzen für die Patientin bzw. den Patienten ist eben nur dann sinnvoll zu bemessen, wenn man alle Komponenten in die Bewertung einbezieht: neben der Testgüte der PET/CT auch die anschließenden Maßnahmen und Therapien.
Das folgende Beispiel verdeutlicht, wie wichtig und zugleich komplex es ist, alle Komponenten einer Methode zu beurteilen: Bei der Telekardiologie erhalten Menschen mit schwerer Herzschwäche oder Herzrhythmusstörungen ein elektronisches Gerät implantiert (siehe Pressemitteilung), das den Herzrhythmus wieder ins rechte Lot bringt („Herzschrittmacher”). Per Telemonitoring können physiologische Parameter aus der Ferne überwacht werden, und eine Ärztin oder ein Arzt kann in bestimmten Fällen zusätzliche therapeutische Maßnahmen einleiten. Das Verfahren der Telekardiologie besteht also nicht nur aus dem implantierten technischen Gerät, sondern auch aus dem Monitoring durch die Ärztin bzw. den Arzt und der anschließenden Behandlung. Letztlich soll die Gesamtheit der Maßnahmen dazu führen, dass Herzinfarkte und Tod vermieden werden und die Lebensqualität erhöht wird. Ob die Telekardiologie funktioniert, hängt von zahlreichen Komponenten ab, beispielsweise welche Messwerte erfasst werden, wie oft sie übermittelt werden, wie genau sie ausgewertet werden und wie schnell man bei Problemen eingreift.
In einer ersten Bewertung konnte für die Telekardiologie zunächst kein eindeutiger Nutzen nachgewiesen werden. Erst als man die Bewertung der Telekardiologie auf gut organisierte Programme mit engmaschigen Kontrollen eingrenzte, ließ sich erkennen, dass zumindest diese Behandlungsform vorteilhaft ist und die Herz-Kreislauf-Sterblichkeit reduzieren kann.
Studien zu nicht medikamentösen Verfahren weisen häufig Schwächen auf.
Um den Nutzen und Schaden medizinischer Interventionen zu ermitteln, werden klinische Studien durchgeführt. Medizinprodukte, die sehr häufig Teil der nicht medikamentösen Verfahren sind, müssen geringere Anforderungen erfüllen als Arzneimittel, um auf den Markt kommen zu dürfen. Daher sind die klinischen Studien zu Medizinprodukten methodisch und inhaltlich oft schwächer als Arzneimittelstudien. Damit ist die Bewertung der damit verbundenen Behandlungsmethoden entsprechend schwieriger.
Für die Hersteller von Medizinprodukten gibt es wenige Anreize, hochwertige Studien zu erstellen, weil diese für den Marktzutritt nicht zwingend notwendig sind. Für die meisten Verfahren gibt es daher nur wenige Studien, um Nutzen und Schaden zu beurteilen. Häufig sind die untersuchten Teilnehmergruppen viel zu klein, der Untersuchungszeitraum zu kurz oder es gibt nicht einmal eine Kontrollgruppe. Für einige wenige Methoden liegen zwar zahlreiche Untersuchungen mit vielen Patientinnen und Patienten vor (z. B. Telekardiologie). Es kann sich dann aber bei genauerer Betrachtung durch das IQWiG zeigen, dass einzelne Studien zwar abgeschlossen sind, aber gar nicht publiziert wurden. Oder es fehlen Daten zu wichtigen Aspekten wie Nebenwirkungen oder der gesundheitsbezogenen Lebensqualität.
Im Bereich der diagnostischen Tests finden sich in der Regel keine randomisierten kontrollierten Studien (RCTs), da die Hersteller meist nur nachweisen wollen, dass ein Test eine hohe Treffsicherheit zur Erkennung einer Erkrankung hat. Dies kann für die Beurteilung des Nutzens unter Umständen ausreichen. Meist aber ist fraglich, ob das frühere oder genauere Finden einer Erkrankung der Patientin oder dem Patienten auch wirklich eine bessere Behandlung und ein besseres Ergebnis ermöglicht. Dies gilt ganz besonders für Früherkennungsuntersuchungen (Screeningtests). Daher ist es für fundierte Aussagen zu Nutzen und Schaden wichtig, die Tests und die folgende Therapie gemeinsam in Studien zu untersuchen (siehe auch das Beispiel PET/CT weiter oben).
Entgegen mancher Verlautbarungen von Hersteller- bzw. Anbieterseite sind hochwertige Studien in der Überprüfung nicht medikamentöser Verfahren grundsätzlich in ähnlicher Weise durchführbar wie bei Arzneimitteln. So lässt sich zwar in Studien zu chirurgischen, psychotherapeutischen oder zahnärztlichen Verfahren oft kein „Doppelblind-Design“ umsetzen, allerdings lassen sich durch andere Techniken (z. B. verblindete Endpunkterhebung) mögliche verzerrende Effekte reduzieren.
Die vorgestellten Beispiele verdeutlichen, dass die Vielfalt und Komplexität nicht medikamentöser Verfahren die evidenzbasierte Beurteilung von Nutzen und Schaden erschweren können, diese jedoch nicht grundsätzlich verhindern.
Bild: © PantherMedia / Golden Sikorka
Die Bewertung nicht medikamentöser Verfahren
1. Was sind nicht medikamentöse Verfahren?
2. Wann und wie überprüft das IQWiG nicht medikamentöse Verfahren?
3. Was sind die besonderen Herausforderungen bei der Überprüfung nicht medikamentöser Verfahren?