4. Fallbeispiele zu Nutzen, Schaden und Potenzial
In diesem Abschnitt werden drei Fälle beschrieben, in denen die Bewertung durch das IQWiG im Auftrag des G-BA jeweils einen Nutzen, einen Schaden oder ein Potenzial belegen konnte. Das jeweilige Verfahren wurde daraufhin in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) aufgenommen, daraus entfernt oder für eine Erprobungsstudie empfohlen.
Neugeborene werden direkt nach der Geburt mit vergleichsweise einfachen Tests körperlich untersucht. Dabei kann es passieren, dass bestimmte schwerwiegende Herzfehler nicht erkannt werden, die unentdeckt lebensbedrohlich werden. Diese Herzfehler zu finden, verspricht die Pulsoxymetrie. Sie misst mit einem Lichtsensor, der am Füßchen des Neugeborenen angebracht wird, den Sauerstoffgehalt im Blut. Ein niedriger Sauerstoffgehalt kann ein Hinweis auf einen kritischen angeborenen Herzfehler (kAHF) sein. Die Untersuchung ist schmerzfrei und es muss kein Blut abgenommen werden. Sie dauert nur wenige Sekunden und zeigt das Ergebnis sofort an. Die Frage war, ob die Methode zusätzlich zur Standarduntersuchung helfen könne, weitere schwerwiegende Herzfehler aufzuspüren, um so schwere oder tödliche Verläufe zu verhindern.
Das IQWiG recherchierte sechs Studien, um die Frage zu beantworten, ob die Pulsoxymetrie als Suchtest einen Nutzen hat. Darunter war eine Interventionsstudie, in der die Pulsoxymetrie zusätzlich zum etablierten Vorgehen durchgeführt wurde und diese Kombination verglichen wurde mit der etablierten Vorsorge ohne Pulsoxymetrie. Diese Studie konnte zwar Hinweise für einen Nutzen liefern, reichte aus methodischen Gründen indes nicht aus, um den Nutzen der Methode klar zu belegen. Daher wurden fünf weitere Studien herangezogen, die die Testgüte der Methode untersuchten, nicht jedoch Nutzen oder Schaden des Verfahrens.
Alles in allem ergab die Bewertung, dass mit dem Pulsoxymetrie-Screening im Durchschnitt bei 3 von 10 000 untersuchten Neugeborenen kAHFs entdeckt werden, die vorher nicht aufgefallen wären. Es gibt zwar auch falsch-positive Befunde, doch zeigte sich, dass diese Fälle in der überwiegenden Mehrheit auf andere gesundheitliche Probleme zurückzuführen waren, die auf diese Weise entdeckt wurden.
Aufgrund dieser Ergebnisse sah das IQWiG Anhaltspunkte für einen Nutzen des Verfahrens, sodass der G-BA zu dem Schluss kam, dass die Pulsoxymetrie als zusätzliche Untersuchung in die Vorsorgeuntersuchungen der Neugeborenen aufgenommen werden sollte und die Kosten dafür von der GKV zu übernehmen sind.
Seit Mitte der 2000er Jahre hatte sich zunehmend ein Verfahren in Krankenhäusern etabliert, bei dem Stents – kleine Röhrchen aus Drahtnetz – Schlaganfälle bei bestimmten Personen verhindern sollen, die bereits einen Schlaganfall erlitten hatten.
Sind Blutgefäße im Gehirn verengt oder verschlossen, kann das einen Schlaganfall auslösen, d. h. das dahinterliegende Gehirnareal wird nicht mehr mit Sauerstoff versorgt und geschädigt. Das Risiko für einen Schlaganfall ist erhöht, wenn Patientinnen und Patienten bereits einen Schlaganfall erlitten haben oder eine Durchblutungsstörung aufgetreten ist. Um das Risiko dieser Patienten für einen erneuten Schlaganfall zu senken, bekommen sie in der Nachsorge Medikamente, die die Blutgerinnung hemmen („Blutverdünner”), und die verengten Gefäße wurden häufig mithilfe eines kleinen Ballons erweitert (perkutane transluminale Angioplastie, PTA). Damit sich das Gefäß später nicht wieder erneut verengt, wurde das Verfahren erweitert, indem zusätzlich ein Stent als Gefäßstütze eingesetzt wird, um das erweiterte Blutgefäß offen zu halten (perkutane transluminale Angioplastie mit Stenteinlage, PTAS).
Weil nach kritischen Studienergebnissen erhebliche Zweifel am Nutzen der Stents aufgekommen waren, beauftragte der G-BA das IQWiG im Jahr 2014 die PTAS bei Gefäßverengungen im Gehirn zu bewerten im Vergleich zu einer Behandlung nur mit blutverdünnenden Medikamenten oder Medikamenten plus Gefäßaufweitung per Ballon (PTA). Jährlich erhielten etwa 500 Patientinnen und Patienten in Deutschland eine solche PTAS.
Die Recherchen des IQWiG ergaben vier relevante Studien, von denen aber vor allem eine große randomisierte kontrollierte Studie (englisch: Randomized controlled Trial = RCT) maßgeblich war. In dieser Studie wurde die PTAS bei mehr als 200 Personen durchgeführt, während mehr als 200 Personen in der Vergleichsgruppe eine rein medikamentöse Behandlung erhielten.
Der Vergleich zwischen einer reinen Medikamenten-Behandlung und dem PTAS-Verfahren mit Stents war eindeutig: In der Stent-Gruppe erlitten signifikant mehr Patientinnen und Patienten einen Schlaganfall als in der Gruppe, die nur mit Medikamenten behandelt worden war. Es gab zudem Hinweise, dass diese Schlaganfälle ausgerechnet durch das Einsetzen der Stents ausgelöst wurden, da sie vermehrt kurz nach dem Eingriff erfolgten.
Damit ergab sich laut IQWiG ein Anhaltspunkt für einen Schaden. Das Bewertungsergebnis fiel nicht eindeutiger aus, weil es in der einbezogenen Studie zu Verzerrungen der Ergebnisse gekommen sein könnte (aufgrund von Todesfällen und Schlaganfällen war die Studie vorzeitig abgebrochen worden, lief also nicht über den zuvor geplanten Zeitraum). Weil der G-BA angesichts der beunruhigenden Studienergebnisse eine schnelle Entscheidung für wichtig hielt, erstellte das IQWiG einen Schnellbericht („ Rapid Report“). Als wenig später Ergebnisse aus einer weiteren großen Studie veröffentlicht wurden, lieferte das IQWiG hierzu sofort eine Bewertung nach. Auch hier zeigte sich die PTAS als nachteilig.
Auf Grundlage der IQWiG-Bewertungen entschied der G-BA schließlich im Jahr 2016, Stents als Vorsorge gegen erneute Schlaganfälle aus der GKV-Versorgung auszuschließen (bis auf ganz wenige Ausnahmefälle).
2017 beauftragte der G-BA das IQWiG mit einer Bewertung des Potenzials eines Verfahrens, das bei Knochenheilungsstörungen der langen Röhrenknochen (Knochen der Arme und Beine) eingesetzt wird: pulsierende elektromagnetische Felder (PEMF).
Es kann vorkommen, dass nach einer Fraktur ein Knochen nur verzögert zusammenwächst oder gar nicht mehr ausheilt (Pseudoarthrose). In diesen Fällen setzen die behandelnden Ärztinnen und Ärzte auf verschiedene Ansätze, um die Fraktur zu therapieren, wie etwa ein Anfrischen der Knochenenden, um das Zusammenwachsen anzuregen, aber auch physiotherapeutische Maßnahmen oder eine Teilbelastung des betroffenen Arms oder Beins. Das PEMF-Verfahren soll zusätzlich zur konservativen Standardbehandlung angewendet werden und damit die Wahrscheinlichkeit einer Heilung erhöhen.
Über mehrere Wochen wird der Bereich der Fraktur täglich für mehrere Stunden mit einem Gerät, das pulsierende elektromagnetische Felder erzeugt, behandelt, was die Heilung fördern soll, indem die Knochenzellen angeregt werden.
Der Hersteller eines der Geräte, der den Antrag beim Gemeinsamen Bundesausschuss gestellt hatte, hatte insgesamt 32 Studien gelistet, um die Vorteile des Verfahrens zu belegen. Darunter waren auch sechs RCTs, was für einen Potenzialantrag eine durchaus beachtliche Zahl ist. Von diesen sechs Studien kamen indes zwei nicht infrage. In einer Studie wurde das Verfahren an frischen Frakturen angewendet, in der zweiten Studie lediglich eine andere Variante des Verfahrens eingesetzt.
Damit stützte sich die Bewertung des IQWiG letztlich vor allem auf vier RCTs, in denen Endpunkte wie Frakturheilung, Schmerz bei Belastung oder auch Häufigkeit erneuter Frakturen betrachtet wurden. Die Auswertung ergab zumindest im wichtigsten Punkt – der Frakturheilung – Hinweise für positive Effekte, weshalb das IQWiG der Methode ein „Potenzial“ attestierte. Der PEMF-Methode direkt einen Nutzen zuzusprechen, war nicht möglich, weil die vier Studien die Heilung des Knochens zum Teil nur über Röntgenbilder definiert hatten, ohne zu prüfen, ob der Patient auf seinem Bein auch wirklich wieder stehen konnte. Weil auch die Erfassung von Nebenwirkungen dürftig war, schlug das IQWiG vor, die Frage nach dem Nutzen der PEMF-Methode mit einer neuen Studie und vergleichsweise geringer Fallzahl (etwa 200 Patientinnen und Patienten) endlich zu beantworten. Zwar beschloss der G-BA daraufhin eine Erprobungsrichtlinie, allerdings gestaltete sich die Suche nach einer Forschergruppe, um eine entsprechende Studie umzusetzen, als unerwartet mühsam. Das ist auch deshalb besonders bemerkenswert, weil die Studienkosten im Wesentlichen durch die GKV übernommen würden.